Bassus (German Edition)
worden.“
Elisabeth dachte nach. „Er betreibt einen asiatischen Kampfsport. Könnte es davon sein?“
„Wie lange macht er das schon?“
„Ich glaube, seit ein oder zwei Jahren.“
Der Arzt schüttelte den Kopf. „Die Narben sind viel älter. Im Gegenteil, ich würde sagen, dass in letzter Zeit keine neuen mehr dazu gekommen sind. Aber damit ich nichts Falsches behaupte, schlage ich vor, dass Sie Tony von einem Experten untersuchen lassen.“
„Ich werde es veranlassen.“
Der Arzt sah sie immer noch ernst an. „Der Junge hat außerdem sehr hohes Fieber.“
„Hängt das irgendwie mit der Gehirnerschütterung zusammen?“
Er schüttelte den Kopf. „Das Fieber hat keine organische Ursache. Es kann mit einem traumatischen Erlebnis zusammenhängen. Was genau ist denn mit ihm passiert?“
Elisabeth beschloss, ihm die Wahrheit zu sagen. „Seine Schwester wurde heute Abend erschlagen. Seine Eltern behaupten, dass er es war. Und er sagt, dass sein Vater es getan hat.“
„Um Gottes Willen.“ Er sah ihr in die Augen. „Und was glauben Sie?“
Elisabeth schwieg.
„Ich verstehe“, sagte der Arzt, „und zu allem Unglück betreibt er auch noch einen Kampfsport.“
Elisabeth nickte.
„Ich habe im Laufe der Jahre schon einiges gesehen“, fuhr der Stationsarzt fort und sah Elisabeth eindringlich an, „und ich weiß nicht, ob Ihnen das weiterhilft. Aber mein Eindruck ist, dass der Junge sterben möchte.“
Elisabeth atmete durch: „Ich könnte es ihm jedenfalls nicht verdenken.“
Der Arzt ging. Sie betrat das Krankenzimmer.
Tony war ein starkes Beruhigungsmittel injiziert worden, und er schlief. Doch entspannt sah er nicht aus. Elisabeth betrachtete seine gequälten Gesichtszüge und die schweißverklebten dunklen Haare.
Nach einer Weile beugte sie sich zu ihm hinunter und flüsterte: „Tony, ich brauche dich. Ich muss beweisen, wie Melanie gestorben ist und wer für deine Narben verantwortlich ist. Bitte gib nicht auf.“
Kaum hatten sie in der Pause auf dem Schulhof eine ruhige Ecke gefunden, legte Ralf los: „Tony hätte Melanie nie im Leben etwas angetan. Deine Mutter muss unbedingt mit meiner Mutter sprechen. Nein, sie muss mit allen im Tagesheim sprechen. Die werden es ihr bestätigen.“
„Ich glaube, da geht sie auch hin heute.“
„Gut.“ Ralf klang etwas erleichtert. „Können wir sonst nichts für ihn tun?“
„Besuch darf er nicht bekommen, hat meine Mutter gesagt, er steht unter Schock. Außerdem ist er der Polizei unterstellt.“
„Was wird denn mit ihm, wenn es ihm wieder besser geht? Er kann doch nicht zu seinen Eltern zurück.“
Franziska sah sich um. „Wir dürften das alles eigentlich gar nicht wissen.“
Ralf winkte ungeduldig ab. „Ja, ich weiß, laufende Ermittlungen und so. Kommen seine Eltern denn nicht wenigstens in Untersuchungshaft?“
„Keine Ahnung. Das Problem ist anscheinend, dass sich sein Vater inzwischen einen Anwalt genommen hat.“
„Scheiße. Und was ist mit Tony?“
„Meine Mutter sagt, dass er nicht angeklagt werden kann, weil er erst dreizehn ist. Da ist man noch strafunmündig.“
„Ist das gut oder schlecht für ihn?“
„Wenn sein Vater freigesprochen wird, ist das, glaube ich, nicht gut für ihn. Denn dann wäre ja er der Täter gewesen.“
„Und was würden sie dann mit ihm machen?“
„Er käme in irgendeine geschlossene Einrichtung. Heim oder Psychiatrie.“
„Da würde er draufgehen.“
„Ich weiß.“
Ralf dachte angestrengt nach. „Sag mal, kann er sich eigentlich auch einen Anwalt nehmen, oder dürfen das nur Erwachsene?“
Franziska sah ihn überrascht an. „Auf die Idee bin ich noch gar nicht gekommen.“
„Falls ja, wer würde ihn denn bezahlen? Seine Eltern werden es ja wohl kaum tun.“
Franziska zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Über den Anwalt seines Vaters sagt meine Mutter jedenfalls, dass der bisher noch jeden herausgeboxt hat. Der wird Tony als Gestörten hinstellen, und sein Vater ist frei.“
„Aber Tony ist nicht gestört!“, rief Ralf empört.
„Pst“, flüsterte Franziska, „aber er macht Kampfsport, und er hat keine Freunde.“
„Er hat uns.“
„Ja, schon. Aber außer uns kann ihn niemand so richtig leiden. Zumindest hier an der Schule. Zu viele haben gesehen, dass er ganz schön zuschlagen kann.“
„Das war doch nur, weil er schwächere Kinder gegen irgendwelche Bullys verteidigt hat.“ Ralf wirkte plötzlich entschlossen. „Ich werde Tony trotzdem
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