Bassus (German Edition)
gemacht, über den Tony seine Beute verkauft hatte. Außerdem hatte sich sein Kung-Fu-Trainer Reinhold bei der Polizei gemeldet und zu Protokoll gegeben, dass Tony dort unter einem falschen Namen gemeldet war.
Natürlich waren auch Tonys Narben zur Sprache gekommen. Seine Eltern erklärten, dass er schon als kleiner Junge hyperaktiv war und sich dauernd selbst verletzte. Mehrmals habe er deswegen im Krankenhaus behandelt werden müssen. Außerdem hätte er sich schon von klein an mit anderen geprügelt. Und da er meist bedeutend größere Kinder angriff, war er oft heftig verdroschen worden.
Als der Staatsanwalt Roland Fuhrmann fragte: „Was sagen Sie dazu, dass Ihr Sohn behauptet, dass Sie ihm seine Narben zugefügt haben?“, hatte der aufstöhnend geantwortet: „Ich weiß nicht, warum er das behauptet. Ich schwöre, ich habe ihn nie geschlagen.“
Tony selbst musste nicht vor Gericht erscheinen. Er war direkt vom Krankenhaus in die geschlossene Abteilung einer Kinder- und Jugendpsychiatrie eingewiesen worden.
Gutachter bescheinigten, dass er wohl schon sehr lange unter einer schweren Persönlichkeitsstörung und schizoiden Psychose gelitten haben musste. Er habe mit Melanie in einer paranoiden Scheinwelt gelebt, einer Art dauerndem Belagerungszustand. Dies habe jedoch nur funktioniert, solange Melanie sich ihm immer bedingungslos untergeordnet hatte. Wahrscheinlich hatte sie in letzter Zeit zunehmend versucht, aus der engen Beziehung zu ihrem Bruder auszubrechen, und er hatte dann auch in ihr eine Feindin gesehen.
„Aber wie erklären Sie sich, dass die Mitarbeiter des Tagesheims, in dem Melanie betreut wurde, davon überzeugt sind, dass er ihr niemals etwas zuleide getan hätte?“, fragte der Staatsanwalt eine Gutachterin.
Die Gutachterin nahm ihre Lesebrille ab und sah ihn an. „Wissen Sie, das ist nicht ungewöhnlich. Derart gestörte Menschen können sehr überzeugend sein. Sie sind Meister darin, ihrer Umwelt etwas vorzugaukeln.
“Wir sprechen hier von einem Kind.“
„Von einem Kind, bei dem eine außergewöhnlich hohe Intelligenz mit einer kranken Psyche gepaart ist. Eine unheilvolle Kombination.“
Der Staatsanwalt runzelte die Stirn. „Müsste es so ein Kind nicht für unter seiner Würde erachten, in die Schule zu gehen und brav am Unterricht teilzunehmen? Aber Tony Fuhrmann war ein ausgezeichneter Schüler. Sogar der Klassenbeste.“
Sie gab eine weitschweifende Erklärung ab, die mit vielen Fachausdrücken gespickt war.
Gwanwyn, deren Deutsch nicht so perfekt war, raunte in Elisabeths Ohr: „Ich verstehe kein Wort. Was, um Himmels Willen, faselt sie da?“
„Es läuft darauf hinauf, dass gerade dieses Wohlverhalten im Unterricht zeigt, wie gefährlich Tony ist.“
„Die spinnt selber.“
Elisabeth schnappte plötzlich ihren Aktenkoffer. „Komm, wir gehen. Ich halte das nicht mehr aus.“
Am Abend saß Gwanwyn zusammen mit Ralf und seiner Mutter bei den Schefflers vor dem Fernseher. In den Nachrichten sahen sie, wie er zusammen mit seiner Frau das Gerichtsgebäude verließ. Er wirkte trotz seines Freispruchs tief erschüttert. Als mehrere Reporter ihm Mikrofone unter die Nase hielten, blieb er stehen. Er legte den Arm um Tonys Mutter und sagte: „Jetzt werden meine Frau und ich uns um unseren Sohn kümmern. Wir wollen, dass er geheilt wird und trotz dieses schrecklichen Ereignisses eines Tages ein glückliches Leben führen kann.“
Im Wohnzimmer der Schefflers war es still.
„Was wird jetzt aus Tony?“, fragte Irmtraud nach einer Weile.
„Sie können ihn so lange in der Geschlossenen behalten, bis er angeblich geheilt ist“, erklärte Elisabeth resigniert. „Das heißt Jahre.“
III
Er saß in einem der bunt gemusterten Ohrenbackensessel im Aufenthaltsraum und sah aus dem vergitterten Fenster.
Seit dem Morgen herrschte in seinem Inneren Alarm. Er musste sich unbedingt beruhigen, damit er klar denken konnte.
Draußen blühten die ersten Krokusse. Die Patienten, die sich frei bewegen durften, gingen zwischen den verschiedenen Gebäuden des psychiatrischen Zentrums spazieren oder halfen den Gärtnern, neue Blumenrabatten anzulegen. Die Insassen seiner Abteilung gehörten nicht dazu. Sie waren 15 Kinder und Jugendliche, die für sich selbst und andere angeblich eine Gefahr darstellten. Der Jüngste war 8, und die Älteste 17.
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