Bassus (German Edition)
gewusst, warum Tony sich unter einem falschen Namen im Club angemeldet hatte. Doch das hatte er nicht einmal seiner Mutter erzählt.
Melanie und Tony waren mit dem Abendessen fertig. Ihre Mutter war gerade hereingekommen, aß jedoch nichts. Sie wollte mit Roland essen, egal, wie spät er nach Hause kam. Für ihn und die Mutter war im Esszimmer immer alles fein gedeckt - obwohl er meist schon gegessen hatte, wenn er kam. Dann aß ihre Mutter fast gar nichts mehr. Sie wollte schlank bleiben.
Plötzlich hörten sie, wie die Haustür zuschlug und Rolands Schritte sich der Küche näherten. Ihre Mutter sprang auf.
Tony lächelte Melanie aufmunternd an und sah, dass auf ihrer Kleidung und dem Fußboden um sie herum Nahrungsreste lagen. Sie konnte nichts dafür, es wurde immer schwieriger für sie, die Bewegungen ihrer Hände zu kontrollieren. Er sprang auf, schnappte einen Lappen und fegte damit zumindest die Reste von Melanies Pullover. Frau Zenker, die Haushaltshilfe, strich sich über die Haare und die makellose Schürze.
Roland erschien im Türrahmen. Sein dunkelblauer Geschäftsanzug saß perfekt und ließ ihn noch größer erscheinen.
Wie immer versetzte ihm der Anblick seines Vaters einen Stich, denn er wusste, dass er ihm sehr ähnlich sah. Nur dass Roland blonde Haare und blaue Augen hatte, während seine Haare und Augen braun waren. Einmal hatte er zufällig gehört, wie ein Gast seiner Eltern zu seiner Frau sagte, dass Tony und sein Vater wie die dunkle und die helle Seite des Mondes wirkten. Und die Frau hatte erwidert, dass der Junge wirklich düster und unheimlich sei und Herr Fuhrmann ihr leid tun könne.
„Guten Tag, Herr Fuhrmann. Essen Sie heute zu Hause? Ich könnte Ihnen und Ihrer Frau eine Minestrone und danach eine Forelle servieren.“
„Gerne, Frau Zenker. Das hört sich gut an.“
Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. Frau Zenker drehte sich errötend um und machte sich ans Werk. So bekam sie nicht mit, wie missbilligend Roland jetzt Melanie betrachtete, ganz so, als beleidige es seine Augen, dass es sie gab. Melanie wurde sofort noch kleiner und blasser, und Tonys Herz krampfte sich zusammen. Einst, als sie noch gesund war, war sie Rolands Liebling gewesen. Zart und schön wie ein Engel, war sie das einzige Lebewesen, das ihn besänftigen konnte. Doch je kränker sie wurde und dabei immer mehr die Kontrolle über ihre Bewegungen und vor allem über ihre Gesichtszüge verlor, hatte sich sein Wohlwollen allmählich in Abscheu verwandelt. Eine solche Tochter wollte er nicht.
Für seinen Sohn hatte er von Anfang an keine zärtlichen Gefühle gehegt. Tony war für seinen Geschmack zu eigenwillig und zu wenig liebenswürdig. Dabei ging Tony, seit er denken konnte, seinem Vater nur deshalb aus dem Weg, weil er Angst vor ihm hatte. Doch das verzieh ihm Roland nicht. Zum Ausdruck brachte er das, indem er ihn schon früh regelmäßig schlug. Mehrmals musste seine Mutter mit Tony ins Krankenhaus und dort etwas von einem Unfall faseln, um ihn, ohne Verdacht zu erwecken, behandeln zu lassen. Melanie dagegen war anschmiegsam und schien Rolands Wünsche immer zu erahnen. Solange sie noch gesund war, schlug er sie nie. Doch als die Krankheit immer weiter fortschritt, hielt er sich auch bei ihr nicht mehr zurück. Weil sie ihn mit ihrer Behinderung enttäuscht hatte, schlug er sie sogar noch heftiger als seinen Sohn.
Doch eines Tages begann Tony sich dazwischen zu werfen, wenn Roland Melanie schlug. Er umklammerte sie dabei so fest, dass er die meisten Schläge abbekam. So war es jedenfalls, bis er seinem Vater zum ersten Mal Schmerzen zugefügt hatte. Seither waren er und Melanie verschont geblieben.
Dafür bekam ihre Mutter jetzt mehr Schläge. Sie stritt das allerdings ab, wenn Tony sie zum soundsovielten Mal bat, mit Melanie in ein Frauenhaus zu fliehen.
Was konnte er tun? Er musste doch in die Schule, und er musste Melanie zum Tagesheim bringen und wieder abholen. Er konnte sich nicht auch noch um ihre Mutter kümmern.
Roland, der immer noch in der Küchentür stand, öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen. Nach einem kurzen Blick in das feindselige Gesicht seines Sohnes ließ er es jedoch sein. Als er endlich ging, atmete Melanie sichtlich auf. Tony hingegen spannte sich erst recht an. Er wusste, dass er Roland noch wütender gemacht hatte. Denn wieder einmal hatte er gewonnen. Es war zwar nur ein ganz kleiner Sieg. Aber irgendjemand würde das büßen müssen.
Während er
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