Bassus (German Edition)
Schneematsch gefror gerade zu Eis. Mist, er war zu dünn angezogen. Egal. Er erkältete sich so gut wie nie. Vorsichtig radelte er durch die abendliche Stadt in einen ruhigeren Stadtteil mit teuren Mietshäusern. Rolands Wagen, in dem nur noch der Chauffeur saß und döste, stand eine Straße weiter. Perfekt. Tony stellte sein Fahrrad hinter einer Gruppe von Müllcontainern ab und lief zu einem alten Baum. Er kletterte hinauf. Kaum saß er, steckte er seine Hände mit den dünnen Handschuhen unter die Achseln. Allmählich füllten sie sich wieder mit Leben. Er setzte sich bequemer hin und zog die Kamera aus seiner Tasche. Schnell fand er das richtige Fenster mit der Balkontür und stellte den Zoom ein. Die hübsche junge Frau in dem gemütlichen Wohnzimmer konnte inzwischen nicht mehr verbergen, dass sie schwanger war. Und sie betete Roland an. Dauernd reichte sie ihm ein hohes, schmales Glas, auf dem eine Zitronenscheibe steckte, oder ein Tablett mit winzigen belegten Broten. Roland schien das sehr zu gefallen, denn er küsste sie und streichelte ihren Babybauch.
Und noch etwas sah Tony: Roland wirkte ungeheuer zufrieden mit sich. Hatte er etwa vor, sie alle zu verlassen, damit er mit dieser jungen Frau eine neue Familie gründen konnte? Für einen Moment keimte Hoffnung in Tony auf. Dann entschied er, dass das nicht sehr wahrscheinlich war, denn dann würde er seine gut bezahlte Position in der Firma ihres Großvaters verlieren. Der alte Direktor Kaurer hielt seine Tochter zwar für unnütz und schwach, aber nach einer Trennung würde er sich Roland gegenüber sicher zu nichts mehr verpflichtet fühlen.
Schade.
Nein. Freiwillig ging sein Vater nicht. Deshalb musste Tony nachhelfen. Immer wieder drückte er auf den Auslöser und hielt die rührenden Szenen häuslichen Glücks fest.
Wenn diese Bilder seine Mutter nicht überzeugen konnten, mit Melanie zu fliehen, dann gab es wirklich keine Hoffnung mehr. Er hatte zwar in Gedanken schon oft durchgespielt, dass er nur mit Melanie fliehen würde, doch er musste diese Pläne immer wieder verwerfen. Melanie brauchte Medizin und Wärme. Und sie brauchte das Tagesheim. Wäre er allein gewesen, dann wäre er längst weg. Er konnte überleben. Aber es ging nun einmal nicht nur um ihn. Es ging um sie beide und vor allem um Melanie. Es half nichts. Sie brauchten ihre Mutter. Die musste endlich aufwachen und sich gegen Roland stellen.
So, das reichte. Zuhause würde er ihr die Bilder sofort zeigen.
Doch leider war seine Mutter nicht mehr nüchtern. Sie hatte in der Zwischenzeit mindestens eine Flasche Wein geleert und torkelte ihm im Wohnzimmer entgegen. Na gut. Dann würde er ihr die Bilder eben morgen zeigen. Er drehte sich um und ging hinauf zu Melanie. Ihr zeigte er die Bilder. Und danach war sie sehr still. Später wusch er sie und brachte sie ins Bett. Dann las er ihr, wie jeden Abend, noch eine Geschichte vor. Doch Melanie war nicht bei der Sache.
„Schlägt er die Frau mit dem Baby im Bauch auch?“
„Jetzt vielleicht noch nicht, aber sicher bald.“
„Und wenn sie und das Baby alles richtig machen?“
„Niemand kann in seinen Augen alles richtig machen, jedenfalls nicht für lange. Er findet immer etwas.“
„Es liegt nicht an uns?“
„Nein.“ Er klappte das Märchenbuch zu und stand auf. Mit Nachdruck sagte er, „ Er ist das Problem, nicht wir.“
Kaum hatte er am nächsten Tag die Schule betreten, stöhnte Tony innerlich auf. Er hatte völlig vergessen, dass sie heute mit der ganzen Klasse das Römisch-Germanische Museum besuchen würden. Er hasste es, wie eine Herde Schafe irgendwo durchgeschleust zu werden. Sie waren doch keine Kindergartenkinder mehr! Zum Glück mussten sie sich nicht auch noch an den Händen halten. Und alles nur, weil Franzis Vater dort arbeitete. Er hatte nichts gegen Franzi, auch wenn er ihr Spiel, ihn immer einzubeziehen, durchschaute. Und er wollte ihr nicht wehtun, indem er sich einfach umdrehte und wegging, denn Franzi war wirklich nett. Aber er brauchte sie nicht. Er hatte keinerlei Bedürfnis, mit irgendjemandem seiner Klassenkameraden eine engere Freundschaft einzugehen. Besonders von Mädchen hielt er sich fern, was nicht verhinderte, dass sich hin und wieder eines für ihn interessierte. Gerade dass er so abweisend war, schien sie zu reizen. Franzi gehörte zum Glück nicht in diese Kategorie.
Mädchen mussten warten, bis er und Melanie erwachsen waren. Bis dahin hatte er keine Zeit. Wenn er überhaupt je
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