Bastard
Nachrichten kommt, kann ich genauso gut wieder bei der New Yorker Polizei anfangen oder mir vielleicht einen Job als Nachtwächter suchen, nur dass der Stellenmarkt zurzeit recht eng ist.«
»An welche Vorgehensweise hast du dich gehalten?«
»Ich hatte keine Chance, mich an irgendwas zu halten. Fielding hat alles an sich gerissen. Natürlich beteuert er, er wäre streng nach Vorschrift vorgegangen. Die Polizei von Cambridge hätte am Fundort nichts Verdächtiges entdeckt, anscheinend ein natürlicher Tod in Gegenwart von Zeugen. Also hat Fielding die Erlaubnis gegeben, die Leiche ins Institut zu schaffen, unter der Bedingung, dass die Polizei die Pistole sicherstellt und schnellstens ins Labor bringt, damit wir rauskriegen, auf wen sie zugelassen ist. Ein Routinefall also und nicht unsere Schuld, wenn die Sanitäter Mist gebaut
haben. So waren wenigstens Fieldings Worte. Und weißt du, was ich dazu sage? Dass es keine Rolle spielen wird. Wir sind so oder so die Sündenböcke. Die Medien werden sich auf uns stürzen, dass uns Hören und Sehen vergeht, und fordern, dass das Institut zurück nach Boston verlegt wird. Kannst du dir das vorstellen?«
Bevor mein Cambridge Forensic Center im letzten Sommer die ersten Fälle übernahm, war das Rechtsmedizinische Institut des Bundesstaates Massachusetts in Boston ansässig und Schauplatz von politischen und wirtschaftlichen Problemen und Skandalen, die stets ihren Weg in die Nachrichtensendungen fanden. Leichen gingen verloren, wurden in die falschen Beerdigungsinstitute geschickt oder ohne vorherige gründliche Untersuchung eingeäschert. In mindestens einem Fall von Verdacht auf Kindesmissbrauch wurden die falschen Augäpfel überprüft. Chief Medical Examiner kamen und gingen, und wegen der Mittelkürzungen mussten Außenstellen geschlossen werden. Doch Marinos Andeutungen stellen sämtliche Vorwürfe, die je gegen dieses Institut erhoben wurden, in den Schatten.
»Ich lasse lieber die Finger vom Spekulieren und befasse mich mit den Tatsachen.« Ich öffne die Beifahrertür.
»Genau das ist ja der springende Punkt, dass wir momentan nichts in der Hand haben, was wirklich Sinn ergibt.«
»Hast du General Briggs dasselbe erzählt wie gerade mir?«
»Nur das, was er wissen musste«, erwidert Marino.
»Dasselbe, was du mir erzählt hast?«, wiederhole ich meine Frage.
»Mehr oder weniger.«
»Das hättest du nicht tun dürfen. Es wäre meine Aufgabe gewesen. An mir liegt es, zu entscheiden, wie weit er eingeweiht werden soll.« Die Beifahrertür steht weit offen. Wind weht herein. Da ich noch feuchte Haare vom Duschen habe,
fröstle ich. »Man ignoriert nicht einfach den Dienstweg, nur weil ich beschäftigt bin.«
»Nun, du warst aber schwer beschäftigt, und so habe ich es ihm gesagt.«
Beim Aussteigen rede ich mir ein, dass Marinos Schilderung unmöglich auf Fakten beruhen kann. Dem Rettungsdienst von Cambridge würde niemals ein so fataler Fehler unterlaufen. Also zermartere ich mir das Hirn nach einer Erklärung, warum eine tödliche Verletzung am Fundort zunächst nicht blutet und dann plötzlich heftig zu bluten beginnt. Dann denke ich über den Todeszeitpunkt und die Todesursache eines Menschen nach, der in der Kühlkammer meines Rechtsmedizinischen Instituts gestorben ist. Ich bin ratlos und tappe völlig im Dunkeln. Und vor allem mache ich mir Sorgen um ihn, diesen jungen Mann, der, angeblich tot, in mein Institut eingeliefert worden ist. Ich stelle ihn mir in ein Laken gewickelt und in einem verschlossenen Leichensack vor. Stoff für alte Gruselmärchen. Ein Mensch, der im Sarg wieder zu sich kommt. Bei lebendigem Leib begraben wird. Noch nie ist mir so etwas Grausiges passiert, nicht einmal annähernd, kein einziges Mal in meiner gesamten beruflichen Laufbahn. Und ich kenne auch sonst niemanden, dem es untergekommen wäre.
»Wenigstens deutet nichts darauf hin, dass er sich aus dem Leichensack befreien wollte.« Marino gibt sich Mühe, uns beide aufzumuntern. »Kein Hinweis darauf, dass er irgendwann aufgewacht und in Panik geraten ist. Du weißt schon, Zerren am Reißverschluss, Strampeln oder so. Wenn er sich gesträubt hätte, hätte er schief auf der Bahre gelegen, als wir ihn heute Morgen gefunden haben. Vielleicht wäre er sogar runtergefallen. Bei genauerem Nachdenken bin ich allerdings nicht sicher, ob man in diesen Dingern nicht erstickt. Wahrscheinlich schon, weil sie ja angeblich wasserdicht sind. Aber
sie lecken trotzdem. Zeig mir einen
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