BASTET (Katzendämmerung) (German Edition)
auch Joseph Kendal Radd, der in dieser Nacht über den Jackson Square schlenderte. Seine gedrungene Gestalt, die wild zerzausten Haare und sein stechender Blick hielten selbst die vorlautesten Dirnen davon ab, ihm ein entsprechendes Angebot zu machen. Die leichten Mädchen blickten unwillkürlich in eine andere Richtung, wenn der Mann in dem langen Mantel an ihnen vorüber ging. Manche empfindsamen Gemüter unter ihnen verspürten dabei vielleicht sogar ein unangenehmes Frösteln in der Art eines kurzen, eisigen Windhauchs, doch schon lange bevor Radd wieder in Richtung Van Ness Avenue verschwunden war, hatte ihn jede der Damen aus ihrem Gedächtnis gestrichen.
Der nächtliche Wanderer störte sich nicht an der fehlenden Aufmerksamkeit, ganz im Gegenteil. Er war sich durchaus seiner fehlenden oder gar abstoßenden Wirkung auf das weibliche Geschlecht bewusst; die Indifferenz, die ihm seine Umwelt entgegenbrachte, erschien ihm mittlerweile aber eher wie ein Geschenk, wie eine Gabe. Noch Jahre zuvor hatte ihn dieser Umstand in tiefste Depressionen stürzen lassen, nun aber genoss er es regelrecht, wenn eine junge Frau hastig seinem Blick auswich. Der Hochmut der Menschen ließ ihn regelrecht unsichtbar werden. Und Joseph Radd tat das, was vermutlich jeder Unsichtbare getan hätte: Er nahm sich ganz einfach das, was er wollte.
An jenem Vorabend der Katastrophe jedoch sollte seine Suche ergebnislos verlaufen. Stundenlang hatte er die Straßen zwischen Embarcadero und Chinatown durchstreift, doch was ihm begegnete, wollte nicht in sein Beute-Schema passen.
Radd stand nicht der Sinn nach verkommenen, fetten Huren, sondern nach ›Jugend‹, ›Schönheit‹, ›Unschuld‹ und ›Reinheit‹.
Er war auf der Suche nach etwas, was die Natur oder der Schöpfer ihm selbst schmächlichst versagt hatten, und er wollte sich auf seine ganz besondere Art dafür bedanken.
Auf dem langen Weg zurück zu seinem Haus in der Pierce Street malte sich Radd die unterschiedlichsten Szenarien mit sich und seiner zukünftigen Traumfrau aus. Er hatte ganz sicher noch nie ein Bild von Hieronymus Bosch gesehen, die Bilder in seinen Gedanken ließen allerdings selbst die apokalyptischen Visionen des berühmten Malers verblassen. Und dennoch lächelte er.
Gegen 5 Uhr 12 am nächsten Morgen schlug Radd verwirrt die Augen auf. Es fiel ihm schwer, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden, doch er glaubte, Etwas oder Jemand habe an seinem Bett gerüttelt. Da er im schwach erhellten Schlafzimmer jedoch nichts Ungewöhnliches feststellen konnte, ließ er sich stöhnend wieder ins Bett zurückfallen und döste weiter. Diesmal waren ihm nur wenige Sekunden vergönnt. Gleich zu Beginn der schweren Erschütterungen löste sich eine Holzplatte von der Decke und landete recht unsanft auf dem Bauch des Schläfers. Vor Überraschung und Schmerz schreiend, sprang Radd aus dem Bett und presste sich fest gegen den Türrahmen. Um ihn herum schien alles mit Leben erfüllt zu sein. Boden, Wände, Schränke und Stühle schwammen zitternd auf den grollenden Wogen des Bebens. Durch das dumpfe Dröhnen hindurch hörte er, wie in der Küche Geschirr zersplitterte; nur wenig später stürzte direkt neben ihm ein schwerer Garderobenschrank um. Alles schwankte. Nur mühsam hielt er sich im Türrahmen. Die Lampe im Flur pendelte, als befände sie sich auf einem sturmumtosten Schiff.
Radd begann langsam bis 10 zu zählen. Er war an Erdbeben gewöhnt; als Jugendlicher hatte er 1885 sogar ein recht schweres miterlebt, dieses hier jedoch war eine vollkommen neue Erfahrung. Als er bei 10 angekommen war, vibrierte der Boden noch immer unter seinen Füßen. Die Stöße hatten sogar noch an Stärke gewonnen. Radd schloss die Augen und tat etwas, woran er sich nur schwach aus frühester Kindheit erinnerte: Er betete.
Die tatsächlichen etwa 47 Sekunden, die das erste Beben dauerte, dehnten sich für ihn und viele seiner Mitmenschen zu unendlichen Minuten. Dann plötzlich hörte es auf.
Langsam rutschte Radd den Türrahmen hinunter und atmete tief ein. Fast augenblicklich musste er husten, da durch den herabgefallenen Deckenputz viel Staub in der Luft war. Es störte ihn aber nicht; die Schmerzen in seinen Bronchien zeigten immerhin, dass er noch am Leben war.
Alles blieb ruhig. Als er schließlich aufstand, waren seine Beine das einzige, was noch zitterte. Hastig zog er sich Hose und Schuhe an und inspizierte vorsichtig die entstandenen Schäden. Er wollte Licht
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