BASTET (Katzendämmerung) (German Edition)
mehr. Es ist jedoch anzunehmen, dass man die wahren Zahlen nie erfahren wird. Die Behörden haben damals alles dafür getan, um die Totenlisten klein zu halten. Wo es nur ging, wurde 'schöngefärbt'. Sie können mir ruhig glauben, doch in jenem April haben sich mit Sicherheit noch viele Tragödien abgespielt, die nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken werden.«
Mein Gegenüber nickte bedächtig. Im Halbdunkel des Raumes konnte ich seine Gesichtszüge nur erahnen.
»Zuweilen ist es vielleicht aber auch besser, wenn Dinge für immer verborgen bleiben«, antwortete er schließlich.
Mein journalistisches Gespür ließ mich sofort nachhaken.
»Dinge? Von was für Dingen sprechen Sie?«
»Von bösen Dingen.« DiLucca, dem das Thema sichtlich unangenehm war, drehte sich zum Ausgang und verließ langsam die Foto-Krypta. »Von sehr bösen Dingen«, murmelte er dabei leise vor sich hin.
Hastig folgte ich ihm zurück in die Gemälde-Galerie. Auch wenn mein Verstand bezweifelte, von einem derart jungen Mann Neuigkeiten über das Erdbeben erfahren zu können, so sprach das seltsame Kribbeln in meinem Bauch eine andere Sprache. Möglicherweise wusste DiLucca ja etwas aus zweiter oder dritter Hand, was meinen vielen Recherchen entgangen war. Es sollte das zweite Mal an diesem Tag sein, an dem meine Erwartungen in jeglicher Hinsicht übertroffen wurden.
DiLucca war vor einem Seestück stehengeblieben und musterte es scheinbar gedankenverloren. Für einige Zeit standen wir nur schweigend vor dem Bild, schließlich wagte ich einen zaghaften Vorstoß: »Waren Sie damals etwa …?«
»Ja«, unterbrach er mich sofort. »Ich war damals 13 oder knapp davor. 1906 lebte ich mit meinen Eltern und drei Brüdern in der Pierce Street, zwischen Waller St. und Duboce Park. Als die Erde bebte, wurde unser Haus stark beschädigt, eine Seite sackte knapp einen halben Meter in den Boden. Verletzt wurde jedoch niemand. Ich habe alles miterlebt, das Beben und das verheerende Feuer, doch das, was mich selbst heute noch in meinen Träumen verfolgt, ist etwas anderes.« Erst jetzt wandte er seinen Blick von dem Gemälde ab und fixierte mich eingehend. »Versprechen Sie mir, nichts in Ihrer Zeitung darüber zu schreiben?«
Ich bejahte fast ohne Zögern. Falls ich etwas von seinen Erlebnissen veröffentlichen sollte, so würde es nicht in der Tagespresse erscheinen. Ich hatte andere Pläne. Seit einiger Zeit trug ich mich nämlich mit dem Gedanken, ein weiteres Buch über San Francisco zu schreiben.
DiLucca schien meine Notlüge zu akzeptieren. Nach kurzem Zögern sagte er: »Das, was ich beobachtet habe, hat auch etwas mit Feuer zu tun, es war jedoch etwas anderes als das, was die Mission Street verwüstet hat. Es war gleichzeitig gewaltiger und doch begrenzter, gezielter. Einfach widernatürlich.«
Da ich befürchtete, jeder Einwand meinerseits könnte seinen Redefluss wieder zum Versiegen bringen, starrte ich ihn nur ungläubig an. Es dauerte dennoch eine ganze Weile, bis er mit seiner seltsamen Geschichte fortfuhr. Und er begann mit einer noch seltsameren Frage: »Haben Sie jemals etwas von der ›Flammenden Jenny‹ gehört?«
Die Geschichte, die ich hier nun wiedergeben will, ist nicht dieselbe, die mir damals DiLucca erzählte, es basieren jedoch entscheidende Teile – vor allem das Ende – auf ihr. Der Anfang und der Mittelteil sind das Ergebnis jahrelanger Nachforschungen, die ich selbst betrieben habe.
Ich fand noch andere Menschen, die wie DiLucca der ›Flammenden Jenny‹ begegnet waren. Auf diese Weise erhielt ich kleinste Mosaiksteinchen, die ich mühsam zu einem Gesamtbild zusammengesetzt habe. Das, was ich nicht direkt belegen konnte, habe ich so wirklichkeitsnah wie möglich hinzugefügt, es sind wahre Erfindungen. Das Ergebnis allerdings ist von fragwürdiger Natur. Ich besaß ein vollständiges 'Skelett', doch obwohl ich es mit Haut überzogen und leidlich gut gestopft habe, so weiß ich selbst heute noch nicht, zu welcher Spezies es gehören mag. Engel oder Dämon?
Am Abend des 17. April 1906 deutete noch nichts darauf hin, welches Unglück wenige Stunden später über die Stadt hereinbrechen würde. Man erholte sich von der Arbeit, trank vielleicht mit guten Freunden ein paar Bier in der nächsten Kneipe oder ergötzte sich an der Darbietung von Enrico Caruso und Olive Fremstad in ›Carmen‹. Vielleicht verhielten sich Hunde und Katzen unruhiger als sonst, doch niemand achtete darauf.
Kein Mensch beachtete
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