BASTET (Katzendämmerung) (German Edition)
Bügeleisen und einem leeren Vogelkäfig darauf.
Radd unternahm nun immer öfter Abstecher in die Seitenstraßen. Das überall herrschende Chaos schützte ihn noch mehr als die Dunkelheit der Nacht. Er konnte sein Glück kaum fassen. Selbst in einem Clownskostüm hätte man ihn keines Blickes gewürdigt. Er war unsichtbarer als unsichtbar.
Um sein Glück zu erproben, zerschlug er die Fensterscheibe eines Süßwarengeschäfts und stopfte sich die Taschen mit Pralinen voll. Niemanden schien es zu kümmern. Auf Höhe der Bush Street plünderte er weitere Läden und Wohnungen, in die das Beben große Löcher gerissen hatte. Seine Beute bestand aus ein wenig Kleingeld, zwei Taschenuhren, einem silbernen Feuerzeug und einer Edelstein-Brosche. Radd war mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Das Geld, das ihm ein Pfandleiher dafür geben würde, ersparte ihm mindestens vier Wochen Lagerarbeit am Pier. Ihm gehörte zwar das Haus seiner Mutter, den Unterhalt für das tägliche Leben musste er jedoch aus eigenen Mitteln bestreiten. Natürlich hätte er ein oder zwei Zimmer vermieten können, ihm missfiel aber der Gedanke, das Haus mit einem fremden Menschen teilen zu müssen. Zudem hätte ein neugieriger Mieter auch etwas von den anderen Gästen erfahren können, die er zeitweilig im Keller beherbergte.
Schwere Detonationen drangen nun immer häufiger an sein Ohr. Irgendwo im Süden wurde offenbar versucht, das Feuer mit Dynamit zu bezwingen.
Als er gegen Mittag die Hügel von Pacific Heights erreicht hatte, sah er erstmals das wahre Ausmaß der Katastrophe. Überall südlich und östlich von ihm stieg dunkler Rauch auf. Am stärksten schienen die Brände auf der Market und Mission Street zu wüten. Bis hinüber zum Embarcadero stand alles in Flammen.
Im Alta Plaza Park suchte er sich ein schattiges Plätzchen mit Blick nach Süden und verzehrte genüsslich die Lebensmittel, die er ebenfalls in den Häusern gefunden hatte. Aus den tiefen Taschen seines Mantels kamen so ein kleines Brot, ein Stück Käse, zwei Äpfel und sogar eine Flasche Rotwein zum Vorschein. So ungefähr musste sich Nero gefühlt haben, als er das brennende Rom betrachtete , dachte er voller Wonne. Mit einer Praline auf der Zunge schlief er ein.
Er fand das Mädchen am frühen Nachmittag. Nachdem mehrmals berittene Soldaten die Straßen patrouilliert hatten, wagte sich Radd nur noch dann auf fremde Grundstücke, wenn kein Zeuge in der Nähe war.
Die Häuser längs des Broadways waren alle prächtige Beweise für den Wohlstand ihrer Besitzer. Das Risiko lohnte sich also. Als er sich unbemerkt in den umzäunten Vorgarten einer Villa schlich, hoffte er auf kostbaren Schmuck, vielleicht sogar Gold oder Diamanten; auf das, was ihn dort schließlich erwartete, war er nicht vorbereitet.
Radd hatte das Haus vor allem deshalb ausgesucht, weil es von allen Anwesen die größten Schäden davongetragen hatte. Ein Seitenturm und der Wintergarten waren vollkommen zerstört worden, die breite Eingangspforte lag unter den Trümmern eines gotischen Maßwerks begraben – ein lieblicher Anblick. Falls die Bewohner nicht im Schlaf getötet worden waren, so hatten sie mit Sicherheit das Grundstück längst verlassen. So hoffte er jedenfalls.
Vorsichtig näherte er sich dem Schuttwall des ehemaligen Turms. Am Fuß des Ruinenberges lagen zahlreiche bunte Keramikscherben. Zwei dunkle, runde Objekte im Gras daneben entpuppten sich als die abgetrennten Köpfe steinerner Tierskulpturen. Eins zeigte einen Hund oder Schakal, das andere einen Falken. Radd verstand nichts von ägyptischer Kunst, er begriff aber, dass im Inneren noch weitaus wertvollere Antiquitäten zu erwarten waren.
Angespannt blickte er nach oben und analysierte die Lage. Wenn es ihm gelang, die Trümmer zu besteigen, so würde er von dort direkt in den ersten Stock des Haupttraktes gelangen können. Die Aufgabe war unangenehm aber lösbar.
Der entschlossene Bergsteiger hatte gerade die Hälfte des Hügels erklommen, als er zwischen zwei Mauerblöcken ein Bein herausragen sah. Neugierig begann er damit, den Körper frei zu legen. Der Anblick, der sich ihm schließlich bot, hätte viele entsetzt die Augen schließen lassen, Radd dagegen studierte jede Einzelheit des Leichnams mit der Nüchternheit eines Chirurgen.
Das Bein gehörte einer älteren Frau, deren linke Kopfhälfte von einer Säule vollkommen zerschmettert worden war. Alle Gliedmaßen hatten sich unter dem Druck der übrigen Mauerteile in anatomisch
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