Bateman, Colin
South Belfast fest.
»Weißt du was?«, sagte Alison.
»Ich geh jetzt rein, aber ich lass meine Wohnungstür angelehnt. Falls du dich
doch noch für Toast entscheidest, kommst du einfach nach, okay?« Ich nickte.
Sie beugte sich zu mir herüber und küsste mich auf die Wange. Ich wusste nicht
mehr, wo mir der Kopf stand. Händchenhalten und ein Kuss auf die Wange an einem einzigen Tag. »Hör zu«, fuhr sie fort, »nimm
es dir nicht so zu Herzen. Das Ganze ist jetzt sechzig, ja fast siebzig Jahre
her. Man darf sich nicht runterziehen lassen von der Weltgeschichte. Klar, wir
wissen immer noch nicht, welches große Geheimnis dahintersteckt, aber
zumindest haben wir dem Sicherheitspersonal dort den Hinweis gegeben, ein Auge
auf sie zu haben. Mehr können wir im Augenblick wirklich nicht tun.«
Ich nickte.
»Also, ich geh dann mal rein.
Himbeer- oder Erdbeermarmelade?«
»Himbeere«, erwiderte ich. »Butter oder Margarine?«
»Butter.«
»Toast mit oder ohne Rinde?«
»Mit.«
»Ich glaube, wir passen
perfekt zusammen.« Sie lächelte erneut. Dann schlüpfte sie aus dem Lieferwagen
und eilte zu ihrer Wohnungstür.
Eine Minute lang hockte ich
wie angewurzelt auf meinem Platz. Beobachtete, wie das Licht im untersten
Apartment anging und dann in dem Raum, den ich für ihr Schlafzimmer hielt. Ich
sah sie kurz vorbeihuschen, den Mantel abstreifen und dann das Schlafzimmer
wieder verlassen. Sie hatte meine Hand gehalten und meine Wange geküsst. Das
war mehr, als ich je zu hoffen gewagt hatte. Mein Vater hatte mir immer
eingeschärft, dass Gott all diejenigen zermalmt, die zu viel zu hoffen wagen -
und mein ganzes bisheriges Leben hatte das bestätigt.
Ich rutschte hinters Lenkrad
und ließ den Motor an.
Dann fuhr ich nach Hause.
Anne Radek hatte sich mit
unerwarteter Klarheit ausgedrückt, und soweit ich das beurteilen konnte, war
ihr Erinnerungsvermögen ungetrübt. Da gab es nichts Vages oder Diffuses.
Selbst wenn sie nicht mehr imstande war, alleine zu leben oder auch nur ihr
Haar zu kämmen, so konnte sie sich doch präzise auf die Ereignisse besinnen,
die ihr Leben geprägt hatten.
Gemeinsam mit ihrem jungen
Ehemann Mark war sie im Frühling 1944 im Arbeitslager Birkenau in Auschwitz
interniert worden. Man tätowierte ihr eine Nummer ein, dann stieß man sie
hinein in eine surreale neue Welt des Grauens und der Erniedrigung. Niemand
konnte damit rechnen, dort länger als ein paar Monate zu überleben. Auch wenn
sie aus behüteten Verhältnissen stammte und alles dafür sprach, dass sie bald
aufgeben würde, war Anne entschlossen, um ihr Leben zu kämpfen. Doch schon bald
schwächten Krankheiten und nagender Hunger ihren Willen. Während die Landung
der Alliierten den Menschen in Europa bereits Hoffnung gab, verschärfte sich
die Situation in den Lagern zunehmend. Hitler führte eine neue
Selektionspolitik ein, und nur diejenigen, die stark genug zum Arbeiten waren,
entgingen der Vernichtung. Anne hatte sich eine Lungenentzündung zugezogen
und konnte kaum mehr gehen. Ein Blick des Lagerarztes reichte, um sie in die
Reihe der Todeskandidaten einzusortieren. Es gab zwei parallele Reihen: die zum
Weiterleben Bestimmten, die ihre Kleider wieder einsammeln konnten; und
diejenigen, die nackt bleiben mussten und zu den Gaskammern geschafft wurden.
Da Anne genau wusste, was sie erwartete, und sie ohnehin nichts mehr zu
verlieren hatte, schloss sie die Augen und trat aus der Todesreihe in die der
Überlebenden. Niemand bemerkte es. Gott war in diesem Moment auf ihrer Seite,
sagte sie. Auch ihr Ehemann Mark hatte überlebt, und ihnen war noch ein kurzer
gemeinsamer Moment vergönnt, bevor man ihn ins Lager der Männer brachte.
Anne und ihre Mitgefangenen
wurden aus dem Familienlager in ein reines Frauenlager verlegt, das von
rücksichtlosem weiblichem SS-Personal bewacht und verwaltet wurde. Anne
ernährte sich ausschließlich von Brotkrusten und einer wässrigen Suppe. Sie
fror, hungerte und arbeitete bis zur absoluten Erschöpfung. Gelegentlich gab es
kleine Akte der Menschlichkeit - ein SS-Wachmann, den man den Mechaniker
nannte und der auf einem Fahrrad durch das Lager fuhr, um kaputte Fahrzeuge
und Anlagen zu reparieren, teilte gelegentlich seine Ration mit den
verhungernden Frauen. Anne meinte, ohne diese winzigen Momente von Trost und
Unterstützung hätte sie alle Hoffnung fahren lassen.
Als sich die Weihnachtszeit näherte,
beschloss die SS bizarrerweise, im Lager ein Konzert zu veranstalten, und
suchte nach
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