Bateman, Colin
musterte mich. »Was hätte
das für einen Sinn gehabt? Wir müssen dem Pferd ins Maul schauen und seine
Zähne untersuchen.«
»Mir ist schlecht vom
Autofahren«, jammerte ich.
Sie schloss die Tür wieder und
lehnte sich zu mir rüber. »Das wird gleich vergehen«, tröstete sie mich.
»Wenn du schon mal reingehen
magst, ich komm dann gleich nach.«
»Ich? Ich bin nur die
Assistentin, du bist mein Chef.«
Das gefiel mir. Nicht nur der Chef. Sondern mein Chef. Nun war es an der Zeit,
zur Tat zu schreiten. Die Hunde loszulassen. Die Truppen zu entsenden. Die
Lenden zu gürten. Es ging hier nicht darum, das Leben einer alten Frau zu
retten - klar, das natürlich auch -, sondern vor allem darum, diese junge Frau
zu beeindrucken. Ihr zu zeigen, wozu ich fähig war. Dass ich mehr war, als nur
die Summe meiner Teile. Mein einziges Problem bestand darin, dass ich nicht aus
dem Lieferwagen steigen konnte. Ich fühlte mich innerlich zerrissen. Auf
Parkplätzen leide ich oft unter diesem Problem, besonders bei Dunkelheit. Es
ist die Art, wie Scheinwerfer über die Reihen von Nummernschildern streifen,
die mich dann förmlich anspringen. In meinem Handschuhfach hatte ich ein Notizbuch.
Natürlich wollte ich sie nicht alle aufschreiben. Das wäre ja verrückt. Nur die
wenigen, die mich wirklich ansprachen. Und das waren nicht sehr viele. Unter
den gegebenen Umständen jedoch hielt ich es für angeraten, sie auswendig zu
lernen, um sie später zu notieren. Die Hauptschwierigkeit bestand darin, dass
einige der Wagen mit dem Heck und andere mit der Kühlerhaube zu mir standen,
so dass ich nicht sicher sein konnte, ob die magischen Nummern auf beiden
Seiten gleich funktionierten und was es zu bedeuten hatte, wenn sie es taten ...
oder eben nicht taten.
Alison fragte: »Kommst du?«
»Ja«, erwiderte ich.
»Du bist immer am Nachdenken, was?«
»Kann nie abschalten«, bestätigte ich.
Alison marschierte zur
Aufnahme und erklärte ihnen, wen wir besuchen wollten. Heutzutage ist
Pursdysburn so etwas wie die freundliche, aufgeklärte Version der Anstalt von
Bedlam; aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie nicht mit der Zwangsjacke
anrücken, wenn ihnen dein Gesichtsausdruck nicht gefällt. Also hielt ich mich
etwas im Hintergrund. Alison behauptete, wir wären Cousin und Cousine und
hätten Tante Anne schon ewig nicht mehr gesehen und ein ganz schlechtes
Gewissen deswegen. Die Dame hinter der Theke erwiderte, das sei sicher in
Ordnung. Dann lächelte sie mich an und fragte mich, wie es mir ging.
»Bestens«, beeilte ich mich zu
sagen.
»Sehr nett hier«, befand
Alison, während wir zum Aufzug spazierten.
Bei dem Hospital handelte es
sich um ein altes viktorianisches Ziegelgebäude, das den Einbau eines modernen Lifts
offenbar nicht duldete. Also rasselten und zuckelten wir hoch in den dritten
Stock. Die ganze Zeit über hielt ich den Atem an. Das mache ich immer so. In
einem siebenundzwanzig Stockwerke hohen Bürogebäude bin ich einmal fast
erstickt.
Auf dem Korridor zur Station
nickte mir ein Arzt zu und erkundigte sich: »Wie geht es Ihnen?«
»Gut«, erwiderte ich. Dann
erklärte ich Alison rasch: »Er kommt manchmal in meinen Laden.«
»Netter Kerl«, sagte sie.
Die verschlossene Tür zur
Station wurde durch einen Summer geöffnet. Eigentlich war diese Sicherheitsmaßnahme
dazu gedacht, die Insassen drinzuhalten, aber sie funktionierte natürlich in
beide Richtungen. Die Schwester musterte mich irritiert, als wäre sie
unsicher, ob ich kam oder ging. Alison erkundigte sich, wie Tante Anne
beisammen war, und die Schwester antwortete - erwartungsgemäß - mit einem
Quietschen ihrer weichen Schuhe.
Es gab acht Betten auf der
Station. Anne Radeks war das letzte auf der rechten Seite, abgehängt mit einem
Vorhang. Zwei der anderen Frauen hatten Besuch, drei schliefen. Das Licht war
gedämpft. Es lief kein lauter Fernseher. Der Geruch nach Desinfektionsmitteln
mischte sich mit dem des Kantinenessens. Die Schwester zog den Vorhang zurück.
»Anne, meine Liebe, schauen Sie mal, wer da ist. Ihre Nichte und Ihr Neffe sind
zu Besuch«!, flötete sie mit übertriebener Freundlichkeit.
Anne Radek saß in einem Stuhl
neben dem Bett und betrachtete uns aus glasigen Augen. Ihre spindeldürren, von
Leberflecken übersäten Arme ragten aus dem rosa Nachthemd. Da, auf der
Innenseite ihres einen Armes war sie - die verblasste Tätowierung der
Häftlingsnummer. Ihre Haut war trocken und schuppig, ihr schütteres weißes
Haar hing
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