Bateman, Colin
hinten lang herab.
»Die hab ich noch nie in
meinem Leben gesehen!«, krächzte sie.
»Aber natürlich haben Sie
das!« Die Schwester ging um das Bett herum, strich die Decke glatt und sagte
dabei mit nur unwesentlich leiserer Stimme: »Manchmal bringt sie alles
durcheinander.«
Anne Radeks Augen zuckten in
ihre Richtung. In ihnen spiegelte sich Verwirrung, aber auch Trotz. »Ich habe
weder Brüder noch Schwestern.«
Die Schwester lächelte
nachsichtig und überließ sie uns. Anne Radek musterte uns misstrauisch.
»Nichten und Neffen«, brummte sie, »hätten Weintrauben mitgebracht.«
»Nichten und Neffen hätten das
ganz sicher nicht«, konterte ich, »weil Sie womöglich daran erstickt wären.«
Eigentlich hatte ich mit
dieser Äußerung einen mitfühlenden und besorgten Eindruck erwecken wollen,
doch Alison warf mir einen scharfen Blick zu. Ich war nervös. Mein Herz raste.
Weit schneller, als es normalerweise sowieso schon raste. Es war heiß und
stickig in der Station. Die Neonleuchten an der Decke summten merkwürdig. Das
waren die Insekten. Sie waren darin gefangen oder würden bald darin gefangen
sein.
»Miss Radek«, begann Alison,
»natürlich sind wir nicht Ihre Nichte und Ihr Neffe. Wir arbeiten für den
Verlag, bei dem Sie Ihr Buch veröffentlichen. Aber wir waren uns nicht sicher,
ob man uns hereinlässt, wenn wir keine Verwandten sind.«
»Für Rosemary?«
»Genau, Rosemary.«
»Sie kommt mich gar nicht mehr besuchen.«
»Sie hat stattdessen uns geschickt.«
»Warum?«
Alison blinzelte mich kurz
fragend an, besann sich dann aber. »Weil es ihr nicht gutgeht.«
Anne Radek schüttelte traurig
den Kopf. »Ich habe meine Hausaufgaben nicht gemacht.«
»Aber Sie hatten ja auch
gesundheitliche Probleme, oder?«
Während Alison sie in ein
Gespräch verwickelte, nutzte ich die Gelegenheit, um das Klemmbrett am Fußende
des Betts zu studieren. Ich blätterte zurück zur Medikamentenliste und stellte
fest, dass sie mit einer heftigen Dosis Effexor XL behandelt wurde, welches mir
als Antidepressivum bekannt war, mit Priadel gegen bipolare Persönlichkeitsstörungen
sowie mit Solpadol, einem Kodeinderivat gegen Schmerzen. In früheren Tagen
hätte man ihr eine Lobotomie verpasst und sie anschließend verrotten lassen.
Auch ich bin nur knapp an
einer Lobotomie vorbeigeschrammt, doch das ist eine andere Geschichte.
Einen Moment überwältige mich
die Erinnerung an meine eigene Vergangenheit. Als ich mich wieder mit der
Realität kurzschloss, standen Anne die Tränen in den Augen. »Aber was soll ich
denn tun? Sie lassen mich nicht schreiben, nicht hier drin. Als ich noch zu
Hause war ...« Mit starren Augen blickte sie aus dem Fenster und über das von
Flutlicht erhellte Gelände rund um Purdysburn. Immerhin waren es keine
Suchscheinwerfer, die von Wachtürmen aus hin und her geschwenkt wurden.
»Machen Sie sich deswegen
keine Sorgen«, beruhigte sie Alison.
Mir behagte es ganz und gar
nicht hier drinnen. Schon als wir am Empfang vorbeigegangen waren, hatte ich
das Gefühl gehabt, als griffe mir jemand in die Brust und quetschte mein Herz
zusammen. Es war an der Zeit, auf den Punkt zu kommen.
»Wir glauben, dass jemand
versuchen könnte ...«
Rasch kam Alison meinem Sie zu töten zuvor und vervollständigte
den Satz stattdessen mit: »... Ihnen zu helfen«. Erneut erntete ich einen
strafenden Blick von Alison, dann setzte sie sich neben die alte Frau. Sanft
nahm sie eine der spindeldürren Hände in die ihre. »Wir nämlich. Wir dachten,
wenn Sie uns erzählen, was Sie noch in Ihrem Buch schreiben wollten, können wir
es an Rosemary weiterleiten, und sie kann dann entscheiden, wie wir weiter
verfahren.«
»Aber ich hab ihr doch bereits
alles erzählt.«
»Tja, aber sie ist ja krank
geworden und hat das meiste wieder vergessen. Deswegen bittet sie darum, dass
Sie uns alles noch einmal berichten, natürlich vorausgesetzt, Sie möchten das.
Ich weiß, Sie reden nicht gerne darüber, aber vielleicht ist das für Sie eine weitere
Gelegenheit...«
»Nein ... nein, tu ich gern.
Schließlich war es mein größter Auftritt, wissen Sie.« Plötzlich leuchteten
ihre Augen. Alison tätschelte ihre Hand. »Mark hat gesagt, er war geradezu
magisch.«
»Ihr Mann?«, fragte Alison.
»Er ist mit Ihnen im Lager gewesen?«
»Natürlich. Wir waren ein Liebespaar.« Trotz ihres fortgeschrittenen
Alters lächelte sie uns an wie ein verliebter Teenager. Alison grinste zu mir
hoch und machte mir ein Zeichen,
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