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Bateman, Colin

Bateman, Colin

Titel: Bateman, Colin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ein Mordsgeschaeft
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Schauspielern und Musikern, die dabei mitwirken sollten. Anne,
mittlerweile fast zu schwach zum Gehen, verfolgte die Proben ohne die Absicht,
daran teilzunehmen; bis einer der Violinisten sein Instrument niederlegte.
Sie konnte es sich nicht verkneifen, danach zu greifen und ihren geliebten
Chopin darauf zu spielen. Sofort wurde sie für die Weihnachtsaufführung ausgewählt
- was mit gewissen Privilegien verbunden war. Die Mitwirkenden mussten nicht
mehr arbeiten und erhielten zusätzliche Essensrationen. Chopin und der
Mechaniker retteten ihr also das Leben. Während des Konzerts malte sie sich
aus, wieder in dem historische Wybrzezak-Theater zu stehen und für Freunde und
Familie zu spielen; für einige wenige Minuten vergaß sie den tagtäglichen Horror
um sich herum. Als sie geendet hatte, sprang das Publikum auf und verlangte
eine Zugabe - es war ihr bestes und gleichzeitig ihr schrecklichstes Konzert,
weil sie wusste, dass viele ihrer Mitmusiker auf der Bühne und viele aus dem
Publikum bald tot sein würden.
    Während ihres Berichts hatte
Anne Radek sich auf ihren spindeldürren Beinen erhoben und angefangen, auf
einer imaginären Violine zu spielen. Dabei wirkte sie wirklich verrückt.
    Aber in ihrem Inneren spielte
sich einfach alles noch einmal genauso ab wie damals.
    Alison hatte geschluchzt. Es
war echt bewegend. Man konnte sich kaum vorstellen, wie es in diesen Lagern zugegangen
war. Nachdem Anne ihren Bericht über die Aufführung abgeschlossen hatte, schien
viel von ihrer Leidenschaft aus ihr zu weichen, als handelte es sich bei dem
Rest nur noch um eine Art Antiklimax. Ihre Erzählungen wurden vager und
schleppender. Das Lagerleben nahm wieder seinen normalen Verlauf - auch wenn
normal in diesem Zusammenhang wohl kaum das zutreffende Wort war. Ein
Unterschied war allerdings, dass sie über mehrere Wochen hinweg relativ
gesundes Essen genossen hatte, wodurch sie die nächsten Monate überstand. Sie
überlebte das Bombardement der Alliierten und einen grausamen Todesmarsch,
bevor sie von den Russen gerettet wurde. Irgendwann gelangte sie zurück nach
Warschau, nur um festzustellen, dass ihre gesamte Familie ausgelöscht worden
war. Sie war so verzweifelt, dass sie schon Selbstmordgedanken hegte, als
plötzlich die Tür aufging und ihr Ehemann Mark hereinkam, nur wenige Stunden
nach seiner Frau. Es war ein Wunder.
     
    *   *   *
     
    Ich saß am Küchentisch und
zerbrach mir den Kopf. Was nicht weiter unüblich war. Dazu trank ich eine heiße
Schokolade und aß ein Twix. Ebenfalls nicht unüblich. Ich machte mir Gedanken
darüber, was Alison wohl von mir dachte und ob sie überhaupt an mich dachte.
Denn welchen Stellenwert konnte schon ein Abendessen mit einem entfernten
Bekannten haben, angesichts der erschütternden Geschichte, der sie kurz zuvor
gelauscht hatte? Vermutlich war sie davon noch völlig in Beschlag genommen. Es
war ein Überlebensdrama, das Zeugnis von der Kraft des Geistes und des Willens
ablegte. Es bewies, wie die Kunst einen aufrichten konnte, auch in völlig
verzweifelten Lebenslagen. Nein, Alison verschwendete sicher keinen Gedanken
mehr an diesen merkwürdigen Krimibuchladenbesitzer. Vermutlich hatte sie noch
nicht einmal meinen plötzlichen Aufbruch bemerkt. Falls sie sich morgen daran
erinnerte und mich fragte, was los gewesen war, würde ich einfach erwidern, ein Unglücksfall in der
Familie, ich musste schnell nach Hause. Und für den Fall, dass sie mir das nicht abkaufte,
musste ich mich wohl mit dem Ende unserer aufblühenden, jungen Beziehung abfinden.
Was jedoch nicht bedeutete, dass ich sie nicht mehr sehen konnte. Ich hatte
immer noch die Webcam und konnte ihr heimlich nachschleichen.
    Ja. ich zerbrach mir den Kopf
über Alison, aber noch mehr zerbrach ich ihn mir über die Geschichte der alten
Dame.
    Auf den ersten Blick war sie
mitreißend und bewegend. Sie schilderte einen Triumph des Guten über das Böse,
und solche Darstellungen des Holocausts ziehen wir jenen vor, in denen es
ausschließlich um die Verbrechen der Menschen an seinen Mitmenschen geht. Ich
muss zugeben, auch mich hatte ihre Geschichte ziemlich mitgerissen -
zumindest bis zum Höhepunkt der Aufführung, wo sie beschrieb, wie draußen der
Schnee gefallen war. An diesem Punkt war mir klargeworden, dass sie uns eine
Version der Ereignisse bot, die nicht unbedingt der Wirklichkeit entsprach.
Denn natürlich war es kein Schnee gewesen, der da an Weihnachten
bilderbuchmäßig herabrieselte; es war die

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