Bateman, Colin
den Insassen stattdessen eine unmenschliche Anonymität
aufzuzwingen; alle wurden auf eine Nummer reduziert. Mit seinem persönlichen
Wunschkennzeichen teilte er der Welt mit, dass er entschlossen war, sich von
der Norm abzuheben, selbst wenn die Regierung ihm eine Nummer aufnötigte.
Er war ein guter Redner -
sparsam mit Worten, aber die wenigen, die er wählte, waren ziemlich
eindringlich. Offensichtlich war er mir dankbar für das, was ich für seine Frau
getan hatte, und er schien davon auszugehen, dass wir nicht grundlos um ihre
Sicherheit besorgt waren. Bei Odessa handelte es sich seiner Ansicht zufolge um
eine real existierende Organisation; und auch wenn er in den letzten Jahren
nichts von irgendwelchen Aktivitäten gehört hatte, hielt er es für sehr gut
möglich, dass sie noch zugange war. Allerdings konnte auch er kein Licht in das
große Geheimnis seiner Ex-Frau bringen.
»Und vielleicht werden wir es
auch nie erfahren«, hatte er mit einem traurigen Kopfschütteln erklärt. »Es
geht ihr nicht wirklich gut. Die Zeiten, in denen sie bei klarem Verstand ist,
werden kürzer und kürzer.«
»Dann haben wir ja richtig
Glück gehabt«, erwiderte ich, »ihre Geschichte noch aus erster Hand zu
erfahren.«
Er blickte mich lange an.
»Manchmal«, erklärte er, »denke ich, man sollte alles vergessen. Wir haben
einfach zu viel gesehen.«
Als ich mich erkundigte, ob er
es für möglich hielt, dass Anne an der Präsentation ihres Buchs teilnahm,
schien er überrascht, dass sie überhaupt stattfand. »Ich dachte, es wäre
beschlossene Sache, es nicht zu veröffentlichen.«
»Nein, nein - der Verleger hat
es sich doch anders überlegt. Er versteht es als eine Art Tribut an seine tote
... seine vermisste Ehefrau.
Aber es wird sicher ein wundervoller Abend. Falls Anne es nicht schafft, dann
sollten unbedingt Sie an ihrer Stelle kommen. Vielleicht sagen Sie sogar ein
paar Worte?«
Mr. Radek nickte langsam.
»Vielleicht, vielleicht. Auch wenn mein Wissen über klassische Musik sehr
beschränkt ist!«
Er kicherte.
Kurz nachdem er gegangen war,
bemerkte ich, dass er seine Bibel vergessen hatte. Allerdings hatte ich eine
Telefonnummer: Er hatte mir erklärt, er könne sich nie auf seine Privatnummer
besinnen, aber wenn ich Smiths Autohaus in den Gelben Seiten raussuchte, würde
einer seiner Söhne alle Neuigkeiten über die Buchpräsentation an ihn
weiterleiten.
»Ich bin 1946 hier
eingetroffen«, hatte er stolz erklärt, »und habe mir mit meinem wenigen Geld
ein Auto gekauft. Gleich am nächsten Tag habe ich es weiterverkauft und einen
hübschen Profit eingestrichen. Seither betreibe ich dieses Geschäft. Inzwischen
arbeite ich nur noch an einem Tag die Woche, denn die Jungs behaupten, ich
hätte keine Ahnung davon - wie drücken sie es gleich nochmal aus -, was angesagt ist.«
Ich hätte ihn anrufen können.
Doch ich tat es nicht. Die Bibel war womöglich ein paar Tausend Pfund wert,
aber selbst das Doppelte hätte mich nicht ausreichend für den Stress
entschädigt, den mir Der Fall der jüdischen Musikanten beschert hatte.
Ich hatte vor, jedes Wissen um
ihren Verbleib abzustreiten.
Unter uns Buchhändlern gibt es
eine Redewendung: Der Finder juchzt, der Verlierer schluchzt.
Kurz nach 22 Uhr schaltete ich
den Computer und die Lichter im vorderen Teil des Ladens aus und trug meine
leere Diät-Pepsi-Dose und die Twix-Verpackungen in die Küche. In den Sommermonaten,
wenn es draußen länger hell ist, schlüpfe ich oft nach abendlichen Arbeitssitzungen
aus der Hintertür und laufe durch die Gasse runter zum Kein-Alibi-Lieferwagen.
Heute trug ich unter einem Arm einen Karton mit Büchern und in der anderen
Hand einen für den Container bestimmten Müllsack. Als ich den Müll weggeworfen
und mich wieder zur Gasse gedreht hatte, hörte ich links von mir eine Stimme.
»Hey.«
Ich wandte mich um, etwas
bewegte sich blitzschnell auf mich zu, und ich spürte einen heftigen Schlag
gegen die linke Wange. Ich flog nach hinten, Bücher segelten durch die Luft,
und ich stürzte hart auf das mit Glassplittern übersäte Pflaster. Zwei Knie
bohrten sich in meinen Rücken und pressten mich fest auf den Boden, während
eine Hand mein Gesicht grob in den Schmutz drückte.
»Jetzt hab ich dich«, fauchte
die Stimme.
Ich war so dämlich. Wenige
Stunden zuvor hatte ich alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen gegen eine vermeintliche
Gefahr getroffen, die sich dann als harmloser alter Mann entpuppte. Jetzt
spazierte ich
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