Battletech 46: Die Natur des Kriegers
24. September 3062
Cassandra Allard-Liao stand am Fenster ihres Büros im ersten Stock des Gebäudes und sah hinaus auf den leeren Paradeplatz der Heimatmiliz. Tantaras wolkenverhangener Morgenhimmel lag schwer über dem menschenleeren Platz und spiegelte ihre Stimmung genau wieder. Grau. Trostlos. Scharfe Windböen trieben Papierfetzen über den öden Beton.
Ein Fetzen für jedes vom Wind verwehte Mitglied meiner Familie, von den Vorboten des Gewitters, das sich über der Inneren Sphäre zusammenbraut. Kuan Yin, die irgendwo in der Besatzungszone mit ihren Hilfsaktionen unterwegs ist, der sogenannten XinSheng-Kommunalität. Kai und ich selbst, auf Lichtjahre voneinander entfernten Schlachtfeldern. Quentin, begraben in den wachsenden Unruhen im Vereinigten Commonwealth. Mutter... Sie blickte auf den langen Brief hinab, den sie in der rechten Hand hielt. Die Zahlen waren unumstößlich, auch wenn sie es gerne auf den Versuch hätte ankommen lassen. Sie legte die Verigraphnachricht auf einen in der Nähe stehenden Tisch. Mutter... die sich darauf vorbereitet, St. Ives aufzugeben.
Und das möglicherweise Beunruhigendste dabei war, daß die Vorstellung, ihre Zentralwelt zu verlieren Cassandra nicht in dem Maße überraschte oder schockierte, wie sie es erwartet hätte.
Ich hätte dort sein sollen, dachte sie, obwohl ihr klar war, daß sie nichts wirklich hätte ausrichten können. Kai hatte kaum mehr als ein Unentschieden gegen die zahlenmäßig überlegenen Truppen der Konföderation auf St. Ives erzielt, und auch das nur jeweils auf einem Schlachtfeld. Cassandra wünschte sich, sie hätte glauben können, daß ihre Anwesenheit einen Unterschied gemacht hätte, aber die letzten beiden Kriegsjahre hatten sie gelehrt, ihre Grenzen zu erkennen, wenn sie schon sonst nichts gebracht hatten.
Wir hätten Kais Beispiel folgen und den Krieg in die Konföderation tragen sollen. Wieder redete sie sich diese Idee selbst als Wunschdenken aus. Selbst mit der Hilfe der SBVS- und ComGuard-Truppen Victor Steiner-Davions fehlte dem Pakt die Kraft, das eigene Territorium zu verteidigen, geschweige denn, zum Angriff überzugehen. Nashuar und jetzt auch Taga waren gezwungen gewesen, eine neutrale Haltung einzunehmen und auf den Ausgang der Kämpfe auf St. Ives zu warten. Milos war verloren, erneut verloren, und diesmal wahrscheinlich endgültig. Es hat wenig Sinn, auf Konföderationsboden zu kämpfen, wenn man hinterher keine Heimat mehr hat, in die man zurückkehren kann.
Daran zumindest konnte Cassandra ihre Siege und ihren Wert für den Pakt messen. Ich habe die Front gehalten. Wir haben eine Position, auf die wir uns zurückziehen können. Noch ist nicht alles verloren. Der Pakt kontrollierte die Teng-Front, von Spica über St. Loris nach Ambergrist. Und mit drei Fünfteln der nationalen Militärproduktion auf weniger als der Hälfte des Territoriums konzentriert könnten wir theoretisch ewig durchhalten.
Seit wann, Mutter? Cassandra zitterte, nicht vor Kälte, sondern weil ihr klar wurde, wie Candace Liaos endgültige Lösung aussah. Die ganze Zeit über hatte sie Cassandra die Mittel für eine Offensive verweigert, hatte sie von einem System ins nächste geschickt, um die Verteidigung der Teng-Front zu koordinieren. Seit wann hast du gewußt, daß es soweit kommen würde?
Cassandra wandte sich von der Einöde vor ihrem Fenster ab, entschlossen, sich wieder auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Die Kosaken brauchten Nachschub, ebenso wie Treyhang Liaos Bewegung Freies Capella. Es mußte ein Überfall auf Indicass vorbereitet werden. Wenn es schon nicht möglich war, den Planeten zurückzuerobern, mußten sie zumindest die CeresMetall-Fabriken für die Konföderation unbrauchbar machen. Es war vielleicht keine ruhmreiche oder verlockende Arbeit, und sicher nicht die Entscheidungsschlacht, die sie sich zu Beginn des Kriegs um den St Ives-Pakt erhofft hatte. Aber auch diese Arbeit mußte getan werden. Und es war ihre Arbeit.
Cassandra kannte ihre Pflicht.
* * *
Sem-po-Berge, Distrikt Vedray, Ambergrist Herzogtum St. Loris, St. Ives-Pakt
Die Wut war verbraucht. Der Zorn war verraucht. Der Rachedurst hatte Pflichtgefühl Platz gemacht. Der Pflicht eines Janshi, eines Kriegers.
Die Temperatur im Innern des Imperator -Cockpits stieg um mehrere Grad, als Oberst Warner Doles eine weitere Breitseite abfeuerte, während er den überschweren Mech vorsichtig den schwierigen, geröllbedeckten Steinschlagabhang in Ambergrists
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