Baudolino - Eco, U: Baudolino
bilden, vorne und an den Knöcheln. Sie jucken, und wenn man sie kratzt, tun sie weh ...«
»Du sprichst darüber, als hättest du sie in guter Erinnerung ...«
»Kälte ist schön.«
»Jeder liebt seine Heimat. Sprich weiter.«
»Gut, also: Dort herrschten einst die Römer, die alten Römer aus Rom, meine ich, die Latein sprachen, nicht die Römer, die ihr jetzt zu sein behauptet – ihr, die ihr Griechisch sprecht und die wir Romäer nennen, oder auchabfällig graeculi , wenn du das despektierliche Wort verzeihst. Später ist dann das Reich jener Römer verschwunden, und in Rom ist nur der Papst geblieben, und überall in Italien sind verschiedene Völker aufgetaucht, die verschiedene Idiome sprachen. Die Leute in der Frascheta sprechen eine gemeinsame Sprache, aber schon in Tortona sprechen sie eine andere. Als ich mit Friedrich durch Italien zog, habe ich viele sehr schöne Sprachen gehört, neben denen unsere in der Frascheta eher ein Bellen ist als eine richtige Sprache, und es schreibt auch niemand in dieser Sprache, denn schreiben tut man immer noch in Latein. Daher war ich, als ich dies hier zu schreiben begann, vielleicht der erste, der so zu schreiben versuchte, wie wir sprachen.«
»Und was hast du hier geschrieben?«
»Nun, siehst du, durch mein Leben unter gebildeten Leuten wusste ich, welches Jahr wir hatten. Ich schrieb im Dezember Anno Domini 1155. Wie alt ich damals war, wusste ich nicht, mein Vater sagte zwölf, meine Mutter meinte, ich wäre schon dreizehn, vielleicht hatten ihr die Mühen, mich in der Furcht des Herrn zu erziehen, die Zeit etwas länger erscheinen lassen. Als ich schrieb, ging ich bestimmt schon auf vierzehn zu. Von April bis Dezember hatte ich schreiben gelernt. Ich hatte mich mit Eifer darauf gestürzt, nachdem der Kaiser mich mitgenommen hatte, und ich übte in jeder Lage, auf freiem Feld, unter einem Zeltdach, an die Mauer eines zerstörten Hauses gelehnt. Meistens auf kleinen Täfelchen, selten auf Pergament. Ich gewöhnte mich schon daran, wie Friedrich zu leben, der sich nie mehr als ein paar Monate am selben Ort aufhielt, und auch das immer nur im Winter – während des übrigen Jahres war er ständig unterwegs und schlief jede Nacht woanders.«
»Aber hier, was erzählst du hier?«
»Nun, zu Beginn jenes Jahres lebte ich noch bei Vater und Mutter, wir hatten ein paar Kühe und einen Garten. Ein Einsiedler aus der Gegend hatte mich lesen gelehrt. Ich trieb mich in Wald und Sumpf umher, ich war ein phantasievoller Junge, ich sah Einhörner, und einmal erschien mir im Nebel – so sagte ich – San Baudolino ...«
»Ich habe noch nie von diesem heiligen Manne gehört. Ist er dir wirklich erschienen?«
»Er ist ein Heiliger aus unserer Gegend, er war Bischof von Villa del Foro. Ob ich ihn wirklich gesehen habe, ist eine andere Geschichte. Kyrios Niketas, das Problem meines Lebens ist, dass ich nie klar und deutlich getrennt habe zwischen dem, was ich wirklich sah, und dem, was ich sehen wollte ...«
»Das geht vielen so ...«
»Ja, aber mir ist es immer passiert, sobald ich behauptete, ich hätte dies oder jenes gesehen oder auch einen Brief gefunden, der dies oder jenes besagte (und den ich womöglich selber geschrieben hatte), dann kam es den anderen so vor, als hätten sie nur darauf gewartet. Und weißt du, Kyrios Niketas, wenn du etwas erzählst, was du dir ausgedacht hast, und die anderen sagen in einem fort: Genauso ist es! , dann glaubst du's am Ende selber. So trieb ich mich in der Frascheta herum und sah Heilige und Einhörner im Wald, und als ich dem Kaiser begegnete, ohne zu wissen, dass er es war, und zu ihm in seiner Sprache sprach, da erzählte ich ihm, dass mir San Baudolino gesagt habe, er – der Kaiser – werde die Stadt Tortona erobern. Ich hatte das nur so hingesagt, um ihm eine Freude zu machen, aber ihm kam es gerade recht, und er wollte, dass ich es vor allen wiederholte, besonders vor den Abgesandten aus Tortona, denn so würden sie sich davon überzeugen, dass sie auch die Heiligen gegen sich hatten, und deswegen hat er mich meinem Vater abgekauft, und der hat sofort eingewilligt, nicht so sehr wegen des bisschen Geldes, das er für mich bekam, sondern weil er dadurch einen hungrigen Esser im Hause loswurde. So hatte sich mit einem Schlag mein ganzes Leben verändert.«
»Bist du einer von seinen Pagen geworden?«
»Nein, sein Adoptivsohn. Zu jener Zeit hatte Friedrich noch keine Kinder, ich glaube, er mochte mich, weil ich ihm
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