Baudolino - Eco, U: Baudolino
sagte, was die anderen ihm aus Respekt verschwiegen. Er behandelte mich, als ob ich sein leiblicher Sohn wäre, er lobte mich für mein Gekrakel, für meine ersten Rechenübungen an den zehn Fingern, für die Kenntnisse, die ichmir über seinen Vater aneignete und über dessen Vater ... Manchmal vertraute er sich mir auch an, vielleicht dachte er, ich verstünde es nicht.«
»Liebtest du diesen Vater mehr als deinen leiblichen, oder warst du fasziniert von seiner Majestät?«
»Kyrios Niketas, bis dahin hatte ich mich noch nie gefragt, ob ich meinen Vater Gagliaudo liebte. Ich gab nur acht, dass ich nicht in Reichweite seiner Fußtritte oder seiner Stockschläge kam, und das schien mir ganz normal für einen Sohn. Dass ich ihn außerdem liebte, habe ich erst bemerkt, als er starb. Vorher hatte ich meinen Vater, glaube ich, nie umarmt. Zum Weinen ging ich lieber an die Brust meiner Mutter, aber die arme Frau hatte auf so viele Tiere zu achten, dass sie nicht viel Zeit fand, mich zu trösten. Friedrich war von schöner Statur, sein Gesicht war weiß und rot und nicht so lederfarben wie das meiner Dorfgenossen, sein Haar und Bart waren feuerrot, die Hände lang, die Finger schmal, die Nägel wohlgepflegt, er war seiner selbst sicher und flößte Sicherheit ein, er war fröhlich und entschieden und flößte Fröhlichkeit und Entschiedenheit ein, er war mutig und flößte Mut ein – ich Löwchen, er Löwe. Er konnte grausam sein, aber zu denen, die er liebte, war er überaus gütig und sanft. Ich habe ihn geliebt. Er war der erste Mensch, der wirklich zuhörte, wenn ich redete.«
»Er nahm dich als Stimme des Volkes ... Ein guter Herrscher hört nicht nur auf seine Höflinge, sondern versucht zu verstehen, was seine Untertanen denken.«
»Ja, aber ich wusste nicht mehr, wer und wo ich war. Seit meiner Begegnung mit ihm, in der Zeit von April bis Dezember, war das Heer zweimal durch Italien gezogen, einmal von der Lombardei bis nach Rom und einmal in umgekehrter Richtung, aber diesmal auf einer Schlangenlinie, zuerst von Spoleto nach Ancona, dann hinunter nach Apulien, dann wieder hinauf in die Romania und weiter nach Verona und Tridentum und Bauzano, um schließlich über die Berge zu ziehen und nach Deutschland zurückzukehren. Nachdem ich zwölf Jahre nur eben zwischen zwei Flüssen verbracht hatte, war ich auf einmal im Zentrum des Universums.«
»So kam es dir vor.«
»Ich weiß, Kyrios Niketas, das Zentrum des Universums seid ihr Romäer, aber die Welt ist größer als euer Reich, es gibt auch noch das Ultima Thule und das Land der Hibernier. Gewiss, verglichen mit Konstantinopel ist Rom ein Haufen Ruinen und Paris ein schlammiges Dorf, aber auch dort passiert hin und wieder etwas. In großen Teilen der Welt spricht man kein Griechisch, und es gibt sogar Leute, die, um auszudrücken, dass sie mit etwas einverstanden sind, oc sagen.«
» Oc? «
» Oc .«
»Sonderbar. Aber erzähle weiter.«
»Ich erzähle weiter. Ich sah ganz Italien, neue Orte und Gesichter, nie zuvor gesehene Kleider, Damast, Stickereien, goldbetresste Mäntel, Schwerter, Rüstungen, ich hörte Stimmen, die ich nur mühsam nachahmen konnte, Tag für Tag. Ich erinnere mich nur noch dunkel, wie Friedrich in Pavia die eiserne Krone des Königs von Italien empfing, wie wir dann weiterzogen in das sogenannte diesseitige Italien, Italia citerior , die Via francigena hinunter, dann die Begegnung des Kaisers mit Papst Hadrian in Sutri, dann die Krönung in Rom ...«
»Aber ist dieser euer Basileus – oder Kaiser, wie ihr sagt – nun in Pavia oder in Rom gekrönt worden? Und wieso in Italien, wenn er doch Basileus der Alamanoi war?«
»Gehen wir der Reihe nach vor, Kyrios Niketas, bei uns Lateinern ist das nicht so einfach wie bei euch Romäern. Bei euch sticht einer dem gerade herrschenden Basileus die Augen aus, wird selber Basileus, alle sind einverstanden, und sogar der Patriarch von Konstantinopel tut, was der Basileus sagt, andernfalls sticht der Basileus auch ihm die Augen aus ...«
»Jetzt übertreibst du aber.«
»Ich übertreibe? Als ich hier ankam, hat man mir sogleich erklärt, dass Basileus Alexios III. auf den Thron gelangt war, weil und nachdem er den legitimen Basileus, seinen Bruder Isaakios, geblendet hatte.«
»Kommt es bei euch nie vor, dass ein König seinen Vorgänger beseitigt, um auf den Thron zu gelangen?«
»Doch, aber dann tötet er ihn, im Kampf oder mit einem Gift oder mit dem Dolch.«
»Siehst du, ihr seid
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