Baudolino - Eco, U: Baudolino
sein Pferd, und nichts wie weg durch die Gassen, bis ich zum Portal der Hagia Sophia gelangte, wo ich Leute mit Maultieren reingehen sah, und heraus kam ein Trupp Soldaten, die silberne Kandelaber schleppten mitsamt ihren armdicken Aufhängeketten, und sie redeten wie Lombarden. Als ich dieses schamlose Treiben sah, dieses Raffen und Den-Hals-nicht-voll-kriegen-Können, da geriet ich in Rage, denn die sich da so schändlich benahmen, waren ja immerhin Leute aus meiner Heimat, fromme Söhne des Papstes in Rom ...«
Unter solchen Gesprächen waren die beiden, gerade als ihre Fackeln zu Ende gingen, aus der Zisterne in die inzwischen stockdunkle Nacht hinausgestiegen und hatten durch menschenleere Gassen den Turm der Genueser erreicht.
Sie hatten ans Tor geklopft, jemand war heruntergekommen, sie waren mit rauher Herzlichkeit empfangen und bewirtet worden. Baudolino schien bei diesen Leuten zu Hause zu sein, und er hatte Niketas sogleich ihrer Obhutempfohlen. Einer von ihnen hatte gesagt: »Kein Problem, wir kümmern uns drum, geht jetzt schlafen«, und das hatte er so sicher und überzeugend gesagt, dass danach nicht nur Baudolino, sondern sogar Niketas eine ruhige Nacht verbrachte.
3. Kapitel
Baudolino erklärt Niketas, was er
als Junge geschrieben hatte
Am nächsten Morgen hatte Baudolino die gewandtesten unter den Genuesern zusammengerufen, Pevere, Boiamondo, Grillo und Taraburlo. Niketas hatte ihnen gesagt, wo sie seine Familie finden würden, und sie waren gleich aufgebrochen, nicht ohne ihn noch einmal zu beruhigen. Dann hatte Niketas um Wein gebeten und Baudolino einen Becher eingeschenkt mit den Worten: »Koste einmal, ob du den magst, es ist geharzter Wein. Viele Lateiner finden ihn ungenießbar und sagen, er schmecke nach Schimmel.« Nachdem Baudolino ihm versichert hatte, dass dieser griechische Nektar sein Lieblingsgetränk sei, hatte Niketas sich zurechtgesetzt, um seine Geschichte zu hören.
Baudolino schien begierig darauf, mit jemandem zu sprechen, als müsse er etwas loswerden, was ihn seit langem belastete. »Schau, Kyrios Niketas«, sagte er, während er ein ledernes Säckchen aufschnürte, das er an einem Band um den Hals trug, und ihm ein Pergament reichte. »Dies ist der Anfang meiner Geschichte.«
Niketas – der die lateinische Schrift durchaus lesen konnte – versuchte vergeblich, etwas zu verstehen.
»Was ist das?« fragte er. »Ich meine, in welcher Sprache ist das geschrieben?«
»Die Sprache weiß ich nicht. Fangen wir einmal so an: Du hast eine Vorstellung, wo Ianua oder Genua liegt und wo Mediolanum oder Mailand, wie die Teutonen oder Germanen sagen oder die Alamanoi, wie ihr Griechen sie nennt. Also, etwa auf halbem Weg zwischen diesen beiden Städten gibt es zwei Flüsse, den Tanaro und die Bormida, und dazwischen liegt eine Ebene, in der, wenn es nicht gerade so heiß ist, dass man Eier auf einem Stein bratenkann, meistens Nebel herrscht, und wenn kein Nebel herrscht, dann schneit es, und wenn es nicht schneit, dann gefriert alles zu Eis, und wenn es nicht zu Eis gefriert, dann ist es trotzdem kalt. Dort bin ich geboren, in einem Landstrich, der Frascheta Marincana heißt, denn es gibt auch einen schönen Sumpf zwischen den beiden Flüssen. Es ist nicht gerade wie an den Ufern der Propontis ...«
»Das denke ich mir.«
»Aber mir hat es gefallen. Es hat etwas, das einem bleibt und überallhin folgt. Ich bin viel gereist, musst du wissen, vielleicht bis nach Groß-Indien ...«
»Bist du nicht sicher?«
»Nein, ich weiß nicht genau, wie weit ich gelangt bin, sicher bis dort, wo die Menschen mit Hörnern auf dem Kopf leben und die mit dem Mund auf dem Bauch. Ich bin wochenlang durch endlose Wüsten gezogen, durch Grassteppen, die bis zum Horizont reichten, und ich habe mich immer wie ein Gefangener gefühlt, gefesselt von etwas, das meine Vorstellungskraft übersteigt. In meiner Heimat dagegen, wenn du im Nebel durch die Wälder streifst, fühlst du dich wie im Mutterleib, du fürchtest dich vor nichts und fühlst dich frei. Und auch wenn kein Nebel herrscht – du wanderst, und wenn es dich dürstet, brichst du dir einen Eiszapfen von einem Ast, und dann hauchst du dir auf die Finger, die ganz voller geloni sind ...«
»Voller was? Ist das ... etwas zum Lachen?«
»Nein, ich habe nicht gheloioi gesagt! Bei euch gibt es nicht mal ein Wort dafür, darum habe ich unseres nehmen müssen. Geloni sind kleine Beulen, die sich wegen der großen Kälte an den Fingern
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