Baudolino - Eco, U: Baudolino
anderen Worten, bei zwanzig Ellen Breite, zehn Ellen Tiefe und hundertzwanzig Ellen Höhe wäre die Vorhalle nicht nur viermal so hoch wie der ganze Tempel, sondern auch so schmal, dass sie beim geringsten Windstoß zusammenbräche. Richtig verzwickt wird es aber, wenn du die Vision Ezechiels liest. Da stimmt kein einziges Maß, da passt nichts zusammen, weshalb viele fromme Leute betont haben, Ezechiel habe eben eine Vision gehabt, was ein bisschen so ist, als ob man sagte, er habe etwas zu viel getrunken und alles doppelt gesehen. Nicht weiterschlimm, der arme Ezechiel durfte sich auch mal ein bisschen irren, hätte dann nur nicht der erwähnte Richard von Sankt Viktor folgende Überlegung angestellt: Wenn jedes Ding, jede Zahl, jeder Strohhalm in der Bibel eine spirituelle Bedeutung hat, dann muss man sehr genau hinsehen, was sie wortwörtlich sagt, denn für die spirituelle Bedeutung ist es eine Sache, zu sagen, dass etwas drei Ellen lang ist, und eine andere, dass es neun Ellen lang ist, da diese beiden Zahlen verschiedene mystische Werte haben. Du machst dir keine Vorstellung, wie es in Richards Vorlesung über den Tempel zuging. Er hatte das Buch Ezechiel vor Augen und arbeitete mit einer Schnur, um alle Maße zu nehmen. Er zeichnete den Umriss dessen, was Ezechiel beschrieben hatte, dann nahm er Stäbe und Brettchen aus dünnem Holz und schnitt sie zurecht, assistiert von seinen Schülern, und versuchte sie zusammenzufügen mit Leim und Nägeln ... Er wollte den Tempel nachbauen und verkleinerte die Maße proportional, das heißt, wo Ezechiel eine Elle sagte, ließ er einen Fingerbreit schneiden ... Alle naselang brach das Ganze zusammen, Richard schalt seine Helfer, sie hätten nicht richtig festgehalten oder zu wenig Leim genommen, sie rechtfertigten sich, er habe ihnen falsche Maße gegeben. Dann korrigierte sich der Meister und sagte, vielleicht stehe im Text zwar porta , aber gemeint sei sicherlich porticus , also Vorhalle, sonst ergäbe sich ein Tor, das so groß sei wie der ganze Tempel, andere Male überlegte er sich's anders und sagte, wenn zwei Maße nicht zusammenpassten, liege es daran, dass Ezechiel sich das eine Mal auf das Maß des ganzen Gebäudes bezogen habe und das andere Mal nur auf das eines Teils. Oder er habe manchmal, wenn er Elle sagte, die geometrische Elle gemeint, die sechs gewöhnliche Ellen misst. Kurzum, ein paar Tage lang war's ein Vergnügen, dem frommen Mann zuzusehen, wie er sich erboste, und wir prusteten jedes Mal los, wenn der Tempel wieder zusammenbrach. Um es ihn nicht merken zu lassen, taten wir so, als läsen wir etwas vom Boden auf, das uns gerade runtergefallen war, aber dann merkte der Kanonikus, dass uns dauernd irgendwas runterfiel, und da hat er uns rausgeschmissen.«
In den folgenden Tagen regte Abdul an, dass vielleicht, da Ezechiel schließlich einer vom Volke Israel war, jemand von seinen Glaubensbrüdern ein bisschen Licht in die Sache bringen könnte. Und als seine Freunde entrüstet einwandten, man könne sich doch nicht bei der Lektüre der Heiligen Schriften von einem Juden beraten lassen, da bekanntlich diese perfiden Leute den Text der heiligen Bücher entstellten, um jede Bezugnahme auf den kommenden Christus zu tilgen, enthüllte ihnen Abdul, dass einige der größten Pariser Gelehrten sich bisweilen durchaus, wenn auch im Stillen, das Wissen der Rabbiner zunutze machten, zumindest bei Stellen, in denen nicht von der Ankunft des Messias die Rede sei. Wie sich's traf, hatten die Kanoniker von Sankt Viktor gerade in jenen Tagen einen Rabbiner in ihre Abtei eingeladen, den noch jungen, aber schon hochberühmten Solomon von Gerona.
Natürlich wohnte Solomon nicht in der Abtei, die Kanoniker hatten für ihn ein feuchtes und dunkles Zimmer in einer der finstersten Gassen von Paris gefunden. Er war tatsächlich ein Mann in noch jungen Jahren, obwohl sein hageres Gesicht von Meditation und Studium gezeichnet schien. Er sprach ein gutes Latein, war aber nicht ganz leicht zu verstehen, denn er hatte eine kuriose Eigenart: Er besaß alle Zähne, oben und unten, vom mittleren Schneidezahn bis ganz hinten auf der linken Seite des Mundes, aber keinen einzigen auf der rechten. Obgleich es Vormittag war, zwang ihn die Dunkelheit des Zimmers, beim Schein einer Lampe zu lesen, und als die Besucher eintraten, legte er die Hände auf eine vor ihm liegende Pergamentrolle, wie um sie vor neugierigen Blicken zu schützen – eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme,
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