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Baudolino - Eco, U: Baudolino

Titel: Baudolino - Eco, U: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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hatten, die Kreuze und Bildnisse unseres Herrn Jesus Christus zumindest so hoch erhoben wie ihr Geschrei und Gejammer, und so zogen sie den Eroberern entgegen in der Hoffnung, sie zu besänftigen.
    Welch ein Wahn, Barmherzigkeit zu erhoffen von diesen Barbaren, die nicht darauf warten mussten, dass die Feinde sich ihnen ergaben, um endlich zu tun, wovon sie seitMonaten träumten: die größte, volkreichste, edelste und opulenteste Stadt der Welt zu plündern und sich die Beute zu teilen. Der riesige Zug der um Gnade Flehenden fand sich gegenüber Falschgläubigen mit verzerrter Miene, deren Schwerter noch rot von Blut waren und deren Pferde unruhig stampften. Als sei der Zug nicht vorhanden und niemals vorhanden gewesen, begannen sie mit der Plünderung.
    O Herr Jesus Christus, welche Drangsal, welche Nöte und Qualen hatten die Unseren da zu erleiden! Warum hatten uns nicht das Toben des Meeres, eine Verdunklung oder vollständige Verfinsterung der Sonne, ein blutroter Hof des Mondes oder die Bewegungen der Sterne dieses äußerste Unglück angekündigt? – So klagte Niketas, als er am Dienstagabend in dem umherirrte, was die Hauptstadt der letzten Römer gewesen war, auf der einen Seite bemüht, den Horden der Ungläubigen aus dem Weg zu gehen, auf der anderen von immer neuen Bränden am Weitergehen gehindert, voller Verzweiflung einen Weg nach Hause suchend und voller Angst, dass inzwischen vielleicht schon einige dieser Hunde seine Familie bedrohten.
    Schließlich, gegen Abend, als er nicht wagte, durch die Parks und über den offenen Platz zwischen der Hagia Sophia und dem Hippodrom zu gehen, war er zu der riesigen Kirche gelaufen, da er ihre hohen Portale offenstehen sah und nicht annahm, dass die Zerstörungswut der Barbaren so weit gehen würde, auch diesen heiligen Ort zu schänden.
    Doch als er eintrat, erbleichte er vor Entsetzen. Der weite Raum war übersät mit Leichen, zwischen denen sich sturzbetrunkene feindliche Reiter bewegten. Nicht weit vor ihm war das Lumpenpack gerade dabei, mit Keulenschlägen die silberne und mit Gold beschlagene Gittertür des Presbyteriums aufzubrechen. Die prächtige Kanzel hatten sie mit Seilen umwunden, um sie herunterzureißen und durch ein Maultiergespann fortschleppen zu lassen. Eine grölende Horde trieb die Tiere mit Schlägen und Schreien an, aber die Hufe glitten auf dem blanken Steinboden aus, die Bewaffneten setzten den armen Tieren mit Stichen undKlingenhieben zu, die also Gequälten brachen vor Angst in lautes Gewieher aus, einige stürzten zu Boden und brachen sich ein Bein, so dass der ganze Raum um die Kanzel ein einziges Gemenge aus Blut und Kot war.
    Teile dieser Vorhut des Antichrist machten sich über die Altäre her, Niketas sah, wie einige ein Tabernakel aufbrachen, den Kelch herausrissen, die geweihten Behältnisse auf den Boden warfen, mit ihren Dolchen die Edelsteine vom Kelch absprengten, diese in ihre Taschen steckten und den Kelch auf einen Haufen anderer zum Einschmelzen bestimmter Gegenstände warfen. Doch zuvor nahmen einige grinsend aus der Satteltasche ihres Pferdes eine Flasche Wein, gossen etwas in das geweihte Gefäß und tranken daraus, wobei sie die Bewegungen eines Zelebranten nachäfften. Schlimmer noch, auf dem nun leergeräumten Hauptaltar vollführte eine halb entblößte Prostituierte, die Züge entstellt von irgendeinem Rauschtrank, barfüßig einen Tanz, frivol auf dem Tisch der Eucharistie die heilige Liturgie parodierend, während die Männer lachten und sie aufforderten, sich auch noch die letzten Kleider vom Leibe zu reißen. Nachdem sie der Aufforderung Stück für Stück Folge geleistet hatte, war sie darangegangen, vor dem Altar den lüsternen alten Kordax zu tanzen, und schließlich hatte sie sich, müde rülpsend, in den Sessel des Patriarchen geworfen.
    Weinend über das, was er sah, hatte Niketas sich rasch auf den Weg zum hinteren Teil der Kirche gemacht, wo jene Säule stand, die der Volksmund die Schwitzende nannte – denn in der Tat überzog sie sich, wenn man sie berührte, mit einem mystischen Schweiß, aber es war nicht aus mystischen Gründen, dass Niketas sie erreichen wollte. Etwa auf halbem Wege dorthin traten ihm zwei hochgewachsene Invasoren entgegen – ihm erschienen sie wie Riesen – und riefen ihm etwas in herrischem Ton zu. Es war nicht notwendig, ihre Sprache zu verstehen, um zu begreifen, dass sie aufgrund seiner höfischen Kleidung dachten, er müsse mit Gold beladen sein oder ihnen sagen

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