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Baudolino

Baudolino

Titel: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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streckte sie nur die Hand vor, bis sie seine Brust in Höhe des Herzens berührte, und rief den Himmel an, ihn gebührend für alles, was er getan hatte, zu belohnen, wobei sie ihn Sohn, Freund und Bruder nannte.
    »Genau in diesem Augenblick, Kyrios Niketas«, sagte
    Baudolino, »habe ich begriffen, daß ich, indem ich meinem Herrn das Leben rettete, meine Schuld beglichen hatte. Aber gerade deshalb fühlte ich mich nicht mehr frei, Beatrix zu lieben. So wurde mir klar, daß ich sie nicht mehr liebte. Es war wie eine verheilte Wunde, ihr Anblick rief dankbare
    Erinnerungen in mir wach, aber er ließ mich nicht mehr
    erzittern, ich spürte, daß ich ihr nahe sein konnte, ohne zu leiden, daß ich mich von ihr entfernen konnte, ohne Schmerz zu empfinden. Vielleicht war ich endgültig erwachsen geworden, und alle Glut der Jugend war erloschen. Ich empfand kein Bedauern darüber, nur eine leichte Melancholie. Ich fühlte mich wie eine Taube, die schamlos geturtelt hatte, aber nun war die Zeit der Liebe vorbei. Es wurde Zeit, aufzubrechen und übers Meer zu reisen.«
    »Du warst keine Taube mehr, du warst eine Schwalbe
    geworden.«
    »Oder ein Kranich.«
    -260-
    16. KAPITEL

    BAUDOLINO WIRD VON
    ZOSIMOS REINGELEGT
    Am Samstag morgen kamen die Genueser Pevere und Grillo, um zu melden, daß in Konstantinopel allmählich wieder eine Art von Ordnung einzukehren beginne. Nicht so sehr, weil sich der Hunger auf Plünderung bei diesen Pilgern gelegt habe, sondern weil ihren Anführern aufgefallen sei, daß sie sich auch vieler wertvoller Reliquien bemächtigt hatten. Bei einem Kelch oder einem Damastgewand konnte man noch die Augen zudrücken, aber die Reliquien durften nicht in alle Winde zerstreut werden.
    Deshalb hatte der Doge Enrico Dandolo angeordnet, daß alle bisher gestohlenen Wertgegenstände in die Hagia Sophia zu bringen seien, damit dort eine gerechte Verteilung
    vorgenommen werden könne. Was zunächst einmal hieß, eine Verteilung zwischen Kreuzpilgern und Venezianern, welch letztere noch auf die Bezahlung dafür warteten, daß sie die Pilger mit ihren Schiffen hergebracht hatten. Nach Abzug dieser Summe würde man den Wert jedes Stückes in Silbermark
    berechnen, und dann würden die Ritter je vier Teile, die berittenen Sergenten zwei und die unberittenen ein Teil bekommen. Die Reaktion der einfachen Fußsoldaten, die nichts abbekommen sollten, kann man sich vorstellen.
    Es wurde gemunkelt, die Abgesandten Dandolos hätten bereits die vier bronzenen Pferde vom Hippodrom abmontiert, um sie nach Venedig zu schicken, und alle maulten sehr unzufrieden.
    -261-
    Als einzige Antwort hatte Dandolo angeordnet, Bewaffnete jeden Ranges zu kontrollieren und auch ihre Wohnungen in Pera zu durchsuchen. Bei einem Ritter des Grafen von Saint-Pol hatte man eine Phiole gefunden. Er sagte, es handle sich um eine Medizin, die jetzt getrocknet sei, aber als man sie in der warmen Hand bewegte, sah man, daß sie eine rote Flüssigkeit enthielt, die offensichtlich das Blut aus der Seite des Gekreuzigten war.
    Der Ritter beteuerte, er habe diese Reliquie vor der Plünderung ehrlich von einem Mönch erworben, doch um ein Exempel zu statuieren, hatte man ihn auf der Stelle gehängt, mit seinem Schwert und seinem Wappen um den Hals.
    »Mann, wie der zappelte!« sagte Grillo.
    Niketas hörte sich diese Nachrichten traurig an, aber
    Baudolino, der plötzlich verlegen war, als ob es seine Schuld wäre, wechselte rasch das Thema und fragte, ob es jetzt an der Zeit sei, die Stadt zu verlassen.
    »Es herrscht noch ein großes Durcheinander«, sagte Pevere,
    »und man muß sehr vorsichtig sein. Wohin wolltet Ihr denn gehen, Herr Niketas?«
    »Nach Selymbria, dort haben wir treue Freunde, die uns
    aufnehmen können.«
    »Selymbria ist schwierig«, sagte Pevere. »Es liegt im Westen, kurz vor der Langen Mauer. Auch mit Maultieren braucht man bis dahin mindestens drei Tage und vielleicht mehr, wenn man eine schwangere Frau dabei hat. Und dann, stellt Euch vor, wer die Stadt mit einer schönen Maultierkarawane durchzieht, sieht aus wie einer, der sich's leisten kann, und die Pilger fallen über ihn her wie die Fliegen.« Also müßten die Maultiere außerhalb der Mauer bereitgestellt und die Stadt zu Fuß durchquert werden. Man müßte die Konstantinsmauer passieren und dann die Küste vermeiden, wo sicher mehr Leute unterwegs sein würden, also einen Umweg über die Mokioskirche machen und
    -262-
    die Theodosiosmauer durch das Pegetor

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