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Baudolino

Baudolino

Titel: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Vor ihnen gingen die Genueser Pevere, Boiamondo, Grillo und Taraburlo mit der Miene von Leuten, die ganz zufällig denselben Weg haben. Aber sie schauten sich an jeder Ecke vorsichtig um und hielten frisch gewetzte Messer unterm Gewand bereit.
    Kurz bevor sie zur Hagia Sophia gelangten, kam ein
    Individuum mit hellblauen Augen und blondem Schnurrbart auf sie zugerannt, packte eines der Mädchen, so häßlich und pockennarbig es aussehen mochte, und versuchte es mit sich fortzuzerren. Baudolino dachte schon, der Moment sei
    gekommen, sich in den Kampf zu stürzen, und die Genueser dachten es auch, aber Niketas hatte eine bessere Idee. Er sah einen Trupp Berittener kommen, warf sich vor ihnen auf die Knie und bat sie, an ihre Ehre appellierend, um Hilfe und Gerechtigkeit. Es waren vermutlich Männer des Dogen, sie versetzten dem Barbaren einige Hiebe mit der flachen Klinge, verjagten ihn und gaben das Mädchen der Familie zurück.
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    Nachdem sie das Hippodrom hinter sich hatten, wählten die Genueser sicherere Straßen: enge Gassen, in denen alle Häuser ausgebrannt waren oder die Zeichen einer gründlichen
    Plünderung trugen. Zu holen war da nichts mehr, beutegierige Pilger mußten anderswo sein. Gegen Mitternacht passierten sie die Theodosiosmauer. Draußen warteten schon die übrigen Genueser mit den Maultieren. Die Flüchtlinge verabschiedeten sich von ihren Beschützern mit vielen Umarmungen und guten Wünschen und machten sich auf den Weg übers Land, unter einem Frühlingshimmel mit einem fast runden Vollmond am Horizont. Eine leichte Brise wehte vom fernen Meer her. Alle hatten sich tagsüber ausgeruht und kamen gut voran, nicht einmal Niketas' schwangere Gattin schien der Ritt zu ermüden.
    Ihm jedoch fiel das Reiten sichtlich schwer, er ächzte bei jedem ein wenig holprigen Schritt seines Maultiers und bat alle halbe Stunde um eine kurze Rast.
    »Du hast zuviel gegessen, Kyrios Niketas«, sagte Baudolino.
    »Hättest du einem armen Exilanten die letzten Köstlichkeiten seines sterbenden Vaterlandes verweigert?« antwortete Niketas.
    Dann suchte er sich einen Stein oder einen umgefallenen Baumstamm, um sich darauf niederzulassen.
    »Aber es ist nur aus Neugier auf den Fortgang deines
    Abenteuers. Setz dich her, Baudolino, horch nur, wie friedlich es hier ist, riech nur die gute Landluft. Ruhen wir uns ein bißchen aus, und du erzählst mir weiter.«
    Da sie während der drei folgenden Tage immer tagsüber ritten und nachts im Freien rasteten, um Orte zu meiden, die von wer weiß wem bewohnt wurden, setzte Baudolino unter den Sternen, in einer Stille, die nur vom Rascheln der Blätter und von plötzlichen Lauten nächtlicher Tiere unterbrochen wurde, seine Erzählung fort.
    Zu jener Zeit - es war das Jahr 1187- hatte Saladin den letzten
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    Angriff auf das christliche Jerusalem unternommen und hatte gesiegt. Er hatte sich großmütig gezeigt, hatte alle, die ein bescheidenes Lösegeld zahlen konnten, unversehrt abziehen lassen und sich damit begnügt, vor den Mauern alle Templer zu enthaupten - denn er mochte zwar großmütig sein, darin waren sich alle einig, doch die Elitetruppe der feindlichen Invasoren zu verschonen, das konnte sich kein Kriegsherr leisten, der dieses Namens würdig war, und das wußten auch die Templer, gehörte doch zu diesem Metier nun einmal die Regel, daß keine
    Gefangenen gemacht wurden.
    Aber so großmütig Saladin sich auch gezeigt haben mochte, die ganze christliche Welt war erschüttert über das Ende jenes überseeischen Frankenreiches, das beinahe ein Jahrhundert lang widerstanden hatte. Der Papst rief alle Herrscher Europas zu einem dritten Pilgerzug auf, um das von den Ungläubigen zurückeroberte Jerusalem erneut zu befreien.
    Für Baudolino war der Umstand, daß sein Kaiser sich der Unternehmung anschloß, die langersehnte Gelegenheit. Einen Pilgerzug nach Palästina zu unternehmen bedeutete, sich darauf einzustellen, mit einer unbesiegbaren Armee nach Osten zu ziehen. Jerusalem würde im Handumdrehen genommen sein,
    und dann blieb nur, weiter in Richtung Indien zu ziehen.
    Doch gerade bei dieser Gelegenheit mußte Baudolino
    entdecken, wie unsicher und müde sich Friedrich in Wirklichkeit fühlte. Er hatte Italien befriedet, aber er fürchtete offenbar, wenn er fortginge, würde er das Erreichte wieder verlieren.
    Oder vielleicht quälte ihn auch die Vorstellung einer erneuten Expedition nach Palästina, weil sie ihn an seine Verfehlung während der letzten

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