Baudolino
nur nirgendwo jemand versteckt war, sondern daß auch niemand sich jemals irgendwo in diesem Zimmer hätte verstecken können. Friedrich Barbarossa war in einem hermetisch verschlossenen Raum gestorben, den er selbst von innen verriegelt hatte und der außen von seinen getreuesten Söhnen bewacht worden war.
»Holt Ardzrouni herbei, der ist ein Experte in medizinischer Kunst«, rief Baudolino.
»Auch ich bin ein Experte in medizinischer Kunst«,
beschwerte sich Rabbi Solomon. »Glaub mir, dein Vater ist tot.«
»Mein Gott, mein Gott!« rief Baudolino. »Mein Vater ist tot!
Benachrichtigt die Wachen, holt seinen Sohn. Suchen wir seine Mörder!«
»Moment«, sagte der Poet. »Warum soll das ein Mord sein? Er war in einem verschlossenen Zimmer, er ist tot. Da liegt der Gradal zu seinen Fußen, der das Gegengift enthielt. Vielleicht
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hat er sich unwohl gefühlt, hat gedacht, er wäre vergiftet worden, und hat es getrunken. Übrigens hat das Kaminfeuer gebrannt. Wer außer ihm kann es angezündet haben? Ich habe von Leuten gehört, die plötzlich einen starken Schmerz in der Brust verspürten - kalter Schweiß brach ihnen aus, sie wollten sich wärmen, sie klapperten mit den Zähnen, und kurz darauf waren sie tot. Vielleicht hat der Rauch des Kamins seinen Zustand noch verschlimmert.«
»Was für ein Zeug war da im Gradal?« schrie plötzlich
Zosimos auf, rollte die Augen und packte Rabbi Solomon an der Brust.
»Sei still, Elender«, sagte Baudolino. »Auch du hast gesehen, daß Kyot von dem Zeug gekostet hat.«
»Zuwenig, zuwenig«, jammerte Zosimos und schüttelte
Solomon. »Ein Schluck genügt nicht, um sich zu betrinken! Wie blöd von euch, einem Juden zu trauen!«
»Blöd von uns war's, einem verdammten Griechen wie dir zu trauen«, rief der Poet, versetzte Zosimos einen Hieb und trennte ihn so von dem armen Rabbi, der vor Angst mit den Zähnen klapperte.
In der Zwischenzeit hatte Kyot den Gradal aufgehoben und andächtig in den Schrein zurückgestellt.
»Du meinst also«, fragte Baudolino den Poeten, »er ist nicht umgebracht worden, sondern durch den Willen des Herrn
gestorben?«
»Das ist leichter anzunehmen, als an ein Luftwesen zu denken, das durch die Tür geschlüpft sein soll, die wir so gut bewacht haben.«
»Also rufen wir den Sohn und die Wachen«, sagte Kyot.
»Nein«, sagte der Poet. »Freunde, hört zu, es geht um unseren
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Kopf. Friedrich ist tot, und wir wissen, daß niemand in dieses verschlossene Zimmer hätte eindringen können. Aber der Sohn und die anderen Barone, die wissen das nicht. Für sie würden wir es gewesen sein.«
»Was für ein elender Gedanke!« sagte Baudolino immer noch schluchzend.
Darauf der Poet: »Hör zu, Baudolino: Der Sohn mag dich
nicht, er kann uns nicht leiden und hat uns immer mißtraut. Wir waren die Wache, der Kaiser ist tot, also sind wir die
Verantwortlichen. Noch bevor wir etwas sagen können, wird er uns am nächsten Baum aufgeknüpft haben, und wenn es in
diesem verfluchten Tal keine Bäume gibt, wird er uns an die Burgmauern hängen. Du weißt sehr wohl, Baudolino, der Sohn hat diese Geschichte mit dem Gradal immer als ein Komplott angesehen, mit dem wir versuchten, seinen Vater an einen Ort zu locken, an den er nie hätte gehen dürfen. Er wird uns töten, um sich mit einem Schlag von uns allen zu befreien. Und seine Barone? Die Nachricht, daß der Kaiser umgebracht worden sei, würde sie dazu treiben, sich gegenseitig zu beschuldigen, es würde ein Massaker geben. Wir sind die Sündenböcke, die zum Wohle aller geopfert werden müssen. Wer wird der Aussage glauben, die ein kleiner Bastard wie du macht, entschuldige, du weißt schon, wie ich das meine, und dazu ein Säufer wie ich, ein Jude, ein Schismatiker, drei fahrende Scholaren und der Boidi, der als Alexandriner am meisten Gründe zum Haß auf Friedrich hatte? Wir sind bereits tot, Baudolino, so tot wie dein Adoptivvater.«
»Also was?« fragte Baudolino.
»Also ist die einzige Lösung«, sagte der Poet, »sie glauben zu machen, daß Friedrich woanders gestorben sei, nicht hier, wo wir ihn hätten beschützen müssen.«
»Und wie das?«
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»Hat er nicht gesagt, daß er im Fluß schwimmen wollte? Wir ziehen ihn ordentlich an und legen ihm seinen Mantel um. Wir bringen ihn in den kleinen Hof, wo niemand ist, aber wo seit gestern abend die Pferde warten. Wir binden ihn im Sattel fest und reiten zum Fluß hinunter, und dort wird ihn das Wasser mit sich fortreißen.
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