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Baudolino

Baudolino

Titel: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Stroh, aus denen
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    Menschen traten, die völlig nackt waren, von Kopf bis Fuß, und es war nur Zufall; wenn bei einigen Männern der überaus lange und wallende Bart manchmal die Scham bedeckte. Die Frauen fanden nichts dabei, Brüste und Bauch zu zeigen, aber sie machten keinen schamlosen Eindruck, im Gegenteil, sie sahen den Neuankömmlingen freimütig ins Gesicht, ohne jedoch
    unkeusche Gedanken aufkommen zu lassen.
    Sie sprachen Griechisch und empfingen die Gäste sehr höflich.
    Sie seien Gymnosophisten, sagten sie, was soviel heiße wie Leute, die sich in unschuldiger Nacktheit darin übten, die Weisheit zu kultivieren und die Güte zu praktizieren. Unsere Reisenden wurden eingeladen, sich nach Lust und Laune in ihrem Dorf umzusehen, und am Abend wurden sie mit einem Essen bewirtet, das allein aus natürlichen Produkten der Erde bestand. Baudolino stellte einige Fragen an den ältesten von ihnen, den alle mit besonderer Ehrfurcht behandelten. Er fragte, was sie besäßen, und jener antwortete: »Wir besitzen die Erde, die Bäume, die Sonne, den Mond und die Sterne. Wenn uns hungert, essen wir die Früchte des Waldes, die dem Lauf der Sonne und des Mondes folgend von selber wachsen. Wenn uns dürstet, gehen wir an den Fluß und trinken. Wir haben jeder eine Frau, und dem Mondzyklus folgend befruchtet ein jeder seine Gefährtin, bis sie ihm zwei Kinder geboren hat, von denen wir eines dem Vater und eines der Mutter geben.«
    Baudolino wunderte sich, daß er weder einen Tempel noch einen Friedhof gesehen hatte, und der Alte sagte: »Dieser Ort, an dem wir leben, ist auch unser Grab, hier sterben wir, indem wir uns zum Schlaf des Todes hinlegen. Die Erde erzeugt uns, die Erde ernährt uns, unter der Erde tun wir den ewigen Schlaf.
    Was den Tempel betrifft, so wissen wir wohl, daß sie andernorts welche errichten, um das zu verehren, was sie den Schöpfer aller Dinge nennen. Wir glauben jedoch, daß die Dinge durch charis entstanden sind, als Geschenk ihrer selbst, so wie sie sich auch
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    von selbst erhalten und wie der Schmetterling die Blüte bestäubt, die ihn, während sie wächst, ernährt.«
    »Aber soweit ich verstanden habe, praktiziert ihr die
    gegenseitige liebe und Achtung, ihr tötet keine Tiere und erst recht nicht euresgleichen. Kraft welchen Gebotes tut ihr das?«
    »Wir tun das gerade, um das Fehlen jeden Gebotes
    wettzumachen. Nur indem wir Gutes tun und lehren, können wir uns und unseresgleichen über das Fehlen eines Allvaters hinwegtrösten.«
    »Ohne einen Allvater geht es nicht«, murmelte der Poet zu Baudolino, »sieh nur, wie unser schönes Heer beim Tode
    Friedrichs zerfallen ist. Die leben hier von Luft und Liebe in den Tag hinein, aber wie das Leben geht, wissen sie nicht...«
    Boron war jedoch sehr beeindruckt von ihrer Weisheit und stellte dem Alten eine Reihe von Fragen. »Wer sind mehr, die Lebenden oder die Toten?« »Die Toten sind mehr, doch man kann sie nicht mehr zählen. Deswegen sind die, die man sieht, mehr als die anderen, die man nicht mehr sehen kann.« »Was ist stärker, der Tod oder das Leben?« »Das Leben, denn beim Aufgang hat die Sonne hell leuchtende Strahlen, und wenn sie untergeht, scheint sie schwächer.« »Was ist größer, die Erde oder das Meer?« »Die Erde, denn auch das Meer ruht auf ihr.«
    »Was ist zuerst gekommen, der Tag oder die Nacht?« »Die Nacht. Alles, was entsteht, bildet sich im Dunkel des Bauches und kommt erst danach ans Licht.« »Was ist die bessere Seite, rechts oder links?« »Rechts. Geht doch auch die Sonne rechts auf und bewegt sich nach links über den Himmel, und die Frau gibt dem Säugling zuerst die rechte Brust.«
    »Welches ist das wildeste aller Tiere?« fragte der Poet. »Der Mensch.« »Warum?«
    »Frag dich selbst. Auch du bist ein Raubtier, das andere Raubtiere um sich hat und aus Machtgier allen anderen
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    Raubtieren das Leben nehmen möchte.«
    Da sagte der Poet: »Aber wenn alle so wären wie ihr, dann gäbe es keine Seefahrt, keinen Ackerbau, keine großen Reiche, die Ordnung und Größe in das kleinliche Durcheinander der irdischen Dinge bringen.«
    Darauf der Alte: »Jede dieser Errungenschaften ist sicher ein Glück, aber eines, das auf dem Unglück anderer beruht, und das wollen wir nicht.«
    Abdul fragte, ob sie wüßten, wo die schönste und fernste aller Prinzessinnen lebte. »Suchst du sie?« fragte der Alte, und Abdul bejahte. »Hast du sie nie gesehen?« fragte der Alte weiter, und Abdul

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