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Baudolino

Baudolino

Titel: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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erlitten, und sie hätten das Banner mit der Jungfrauen-Ikone erobert, das sein Heer als Feldzeichen vor sich hertrug. Murtzuphlos war dann nach Konstantinopel zurückgekehrt, aber er hatte seinen Leuten verboten, zu irgendwem von dieser Schande zu sprechen. Die Lateiner hatten von seiner Zurückhaltung erfahren, und so ließen sie eines Morgens direkt vor den Mauern eine Galeere
    vorbeidefilieren, mit dem Banner gut in Sicht und auf Deck angetretenen Männern, die den Romäern obszöne Gesten
    hinübersandten, wie das Feigenzeichen oder das Schlagen der linken Hand auf den rechten Arm. Murtzuphlos hatte nicht gut ausgesehen, und in den Straßen sangen die Leute Spottlieder über ihn.
    Kurz und gut, zwischen der Zeit, die man zur Herstellung einer guten Reliquie braucht, und der, die es dauert, bis man sie gut untergebracht hat, vergingen für unsere Freunde die Monate Januar, Februar und März; mit dem Kinn des heiligen Eoban heute und dem Schienbein der heiligen Kunigunde morgen
    brachte sie eine hübsche Summe zusammen, die es ihnen
    erlaubte, sowohl den Kredit der Genueser zurückzuzahlen als auch sich selbst gehörig neu einzukleiden.
    »Dies mag dir erklären, Kyrios Niketas, warum in den letzten Wochen so viele doppelt vorhandene Reliquien in deiner Stadt
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    aufgetaucht sind, bei denen inzwischen Gott allein weiß, welche von beiden die echte ist. Aber versetz dich einmal in unsere Lage, wir mußten ja irgendwie überleben, zwischen den
    Lateinern einerseits, die jederzeit zu Diebstahl und Raub bereit waren, und deinen Graeculi, entschuldige, deinen Römern andererseits, die bereit waren, sie zu betrügen. Letztlich haben wir nur die Betrüger betrogen.«
    »Nun ja«, sagte Niketas resigniert, »vielleicht werden ja viele dieser Reliquien verrohte Lateiner, die sich in ihren rohen Kirchen versammeln, zu heiligen Gedanken inspirieren. Heilig der Gedanke, heilig die Reliquie. Die Wege des Herrn sind unendlich.«
    Eigentlich konnten sie sich nun entspannen und in ihre
    Heimatländer abreisen. Boron und Kyot hatten keine Ideen mehr, sie hatten es inzwischen aufgegeben, nach dem Gradal zu suchen und mit ihm nach Zosimos. Der Boidi sagte, mit dem verdienten Geld werde er sich in Alexandria ein Weingut kaufen und den Rest seines Lebens als Herr verbringen. Baudolino hatte noch weniger Ideen als die anderen: Die Suche nach dem Reich des Priesters Johannes war beendet, Hypatia war verloren, was bedeutete es ihm da noch, ob er lebte oder starb? Nur der Poet wurde immer noch von Allmachtsphantasien umgetrieben: Er verstreute die Dinge des Herrn in der Welt, er hätte längst anfangen können, einige Stücke nicht bloß untergeordneten Pilgern anzubieten, sondern den Mächtigen, die sie führten, um dafür deren Gunst zu erwerben.
    Eines Abends kam er nach Hause und berichtete, in
    Konstantinopel befinde sich das Mandylion, das Antlitz von Edessa, eine Reliquie von unschätzbarem Wert.
    »Was ist denn dieses Mandylion?« fragte Boiamondo.
    »Ein kleines Tuch, mit dem man sich das Gesicht abtrocknet«, erklärte der Poet, »und darauf ist das Antlitz des Herrn zu sehen;
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    Nicht gemalt, sondern eingedrückt, durch Naturkraft eingeprägt
    - ein acheiropoieton, ein nicht von Menschenhand gemachtes Werk. König Abgar V. von Edessa war leprakrank und hatte seinen Archivar Hannan zu Jesus gesandt, um ihn zu bitten, nach Edessa zu kommen und ihn zu heilen. Jesus konnte nicht nach Edessa gehen, und da hat er dieses Tuch genommen, sich damit das Gesicht abgetrocknet und sein Abbild darin
    hinterlassen. Natürlich ist der König, als er das Tuch bekam, sofort gesund geworden und hat sich zum wahren Glauben
    bekehrt. Später, als die Perser Edessa belagerten, wurde das Mandylion auf der Stadtmauer gehißt und hat die Stadt gerettet.
    Dann erwarb es der Kaiser Konstantin und brachte es hierher, und hier war es zuerst in der Blachernenkirche, dann in der Hagia Sophia und dann in der Pharoskapelle. Und es ist wirklich das echte Mandylion, auch wenn behauptet wird, daß es noch andere gebe - im kappadokischen Camulia, im ägyptischen Memphis und in Anablatha bei Jerusalem. Was nicht unmöglich ist, denn schließlich hatte sich Jesus mehrmals im Leben das Gesicht abtrocknen können. Aber dieses hier ist sicher das wundertätigste von allen, denn am Ostertag ändert sich das Antlitz mit den Stunden des Tages: Bei Sonnenaufgang nimmt es die Züge des neugeborenen Jesus an, in der dritten Stunde die des zwölfjährigen Jesus und

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