Baudolino
starke Mann war inzwischen Alexios Dukas Murtzuphlos, der von den Anführern des Heeres unterstützt wurde. So war es für ihn ein leichtes, die Macht zu ergreifen. Isaakios starb an gebrochenem Herzen, Murtzuphlos ließ den Kanabos ins Gefängnis werfen, erwürgte eigenhändig Alexios IV. und wurde selbst Alexios V.«
»Ja, und damit sind wir in jenen Tagen angelangt, als niemand mehr wußte, wer eigentlich das Sagen hatte, ob Isaakios, Alexios, Kanabos, Murtzuphlos oder die Lateiner, und als wir nicht begriffen, wenn einer von Alexios sprach, ob er den dritten, vierten oder fünften meinte. Wir fanden die Genueser noch dort, wo auch du sie kennengelernt hast, während die Häuser der Venezianer und der Pisaner bei der zweiten
Feuersbrunst verbrannt waren und sie selbst sich nach Pera zurückgezogen hatten. Und in dieser unglücklichen Stadt, so
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beschloß der Poet, sollten wir nun unser Glück machen.«
Wenn Anarchie herrscht, so der Poet, kann jeder König
werden.
Aber erst einmal mußten sie irgendwie Geld auftreiben.
Unsere fünf Überlebenden waren abgerissen, verdreckt und bar aller Mittel. Die Genueser nahmen sie gastfreundlich auf, sagten aber, Gäste seien wie Fische, die nach drei Tagen stinken. Der Poet wusch sich gründlich, stutzte sich Haare und Bart, lieh sich von den Gastgebern ein anständiges Gewand und begab sich eines Morgens in die Stadt, um die Lage zu sondieren.
Am Abend kam er zurück und sagte: »Seit heute ist
Murtzuphlos der Basileus, er hat die anderen allesamt
ausgeschaltet. Es scheint, daß er die Lateiner provozieren will, um sich bei seinen Untertanen in ein gutes Licht zu setzen, und die Lateiner betrachten ihn als einen Usurpator, weil sie ihre Absprachen mit Alexios IV. getroffen hatten Friede seiner Seele, er war noch so jung, aber wie man sieht, war ihm wirklich nichts Gutes beschieden. Die Lateiner warten darauf, daß Murtzuphlos einen falschen Schritt macht. Fürs erste besaufen sie sich weiter in den Tavernen, aber sie wissen, daß sie ihn früher oder später verjagen und die Stadt plündern werden. Sie wissen schon, welches Gold sie in welchen Kirchen finden werden, sie wissen, daß es in der Stadt jede Menge versteckte Reliquien gibt, aber sie wissen auch, daß man mit Reliquien nicht scherzt und daß ihre Anführer sie für sich haben wollen, um sie in ihre Heimatstädte mitzunehmen. Da jedoch diese Graeculi nicht besser sind als sie selbst, machen die Pilger diesem oder jenem den Hof, um sich schon jetzt und für wenig Geld die besten Reliquien zu sichern. Moral der Geschichte: Wer in dieser Stadt sein Glück machen will, verkauft Reliquien, und wer es nach seiner Rückkehr bei sich zu Hause machen will, kauft sich welche.«
»Also ist der Moment gekommen, unsere Täuferköpfe
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rauszuholen!« sagte der Boidi hoffnungsvoll.
»Was redest du da für einen Unsinn, Boidi!« sagte der Poet.
»Erstens kannst du in einer Stadt höchstens einen Kopf
verkaufen, weil es sich dann herumspricht. Zweitens habe ich sagen hören, daß es hier in Konstantinopel schon einen
Täuferkopf gibt und vielleicht sogar zwei. Angenommen, sie haben schon zwei gekauft, und wir kommen mit einem dritten, dann schneiden sie uns doch die Kehle durch! Also nix mit Täuferköpfen. Aber nach Reliquien zu suchen ist
Zeitverschwendung. Es geht nicht darum, welche zu finden, sondern welche zu machen, und zwar genauso wie die, die es schon gibt, aber die bisher noch niemand aufgetrieben hat. Ich habe mich in der Stadt ein bißchen umgehört, die Leute reden zum Beispiel vom Purpurmantel Christi, von der Rute und der Säule der Geißelung, von dem mit Galle und Essig getränkten Schwamm, der dem sterbenden Jesus ans Kreuz gereicht wurde, nur daß er inzwischen trocken ist, von der Dornenkrone, von einem Kästchen, in dem ein Stück des .gewandelten Brotes vom Letzten Abendmahl aufbewahrt wird, von Barthaaren des
Gekreuzigten, von seinem nahtlosen Gewand, um das die
Soldaten gewürfelt haben, vom Kleid der Madonna ...«
»Man müßte mal sehen, welche sich am leichtesten
nachmachen lassen«, sagte Baudolino gedankenvoll.
»Genau«, sagte der Poet. »Eine Rute findet man überall, an eine Säule wollen wir lieber nicht denken, weil man die nicht gut unterm Tresen verkaufen kann.«
»Aber wieso sollen wir das Risiko mit Duplikaten eingehen?
Nachher findet jemand die echte Reliquie, und die, denen wir die falsche verkauft haben, wollen ihr Geld zurück«, sagte Boron sehr
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