Baudolino
Stunden noch nutzen, um einen großen Coup zu landen, von dem er selber nicht wußte, worin der bestehen könnte. Er hatte bereits den Blick eines Irren, und mit Irren kann man
bekanntlich nicht diskutieren. So erfüllten sie ihm seinen Wunsch, wobei sie sich sagten, es werde genügen, die Schiffe im Auge zu behalten, um zu wissen, wann der Moment
gekommen sein würde, sich ins Landesinnere davonzumachen.
Der Poet blieb zwei Tage fort, und das war zuviel. Denn am Morgen des Freitag vor Palmsonntag war er noch nicht zurück, und da hatten die Pilger schon angefangen, vom Meer aus anzugreifen, zwischen dem Blachernenpalast und dem
Euergeteskloster, ungefähr in der Gegend namens Petria, nördlich der Konstantinsmauer.
Es war zu spät; die Stadt zu verlassen, die inzwischen von
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allen Seiten umzingelt war. Ihren Herumtreiber von Gefährten verfluchend, beschlossen Baudolino und die anderen, lieber bei den Genuesern zu bleiben, deren Viertel nicht bedroht zu sein schien. So warteten sie, und Stunde für Stunde hörten sie neue Nachrichten aus Petria.
Die Schiffe der Pilger strotzten von Belagerungsmaschinen.
Murtzuphlos stand auf einem kleinen Hügel hinter der Mauer, zusammen mit allen seinen Heerführern und Höflingen und Bannerträgern und Trompetern. Doch trotz dieser Parade
schlugen sich seine Soldaten nicht schlecht: Die Lateiner hatten mehrmals zu stürmen versucht und waren jedesmal
zurückgeworfen worden, unter dem Jubel der Graeculi, die auf den Mauern standen und den Abgewiesenen ihren nackten
Hintern zeigten, während Murtzuphlos triumphierte, als habe er das alles gemacht, und schon den Befehl gab, die Siegesfanfaren zu blasen.
So schien es zunächst, daß Dandolo und die anderen Anführer darauf verzichteten, die Stadt auszuquetschen, und sowohl der Samstag als auch der Sonntag vergingen, ohne daß etwas
geschah, auch wenn alle sehr wachsam blieben. Baudolino nutzte die gespannte Ruhe, um kreuz und quer durch
Konstantinopel zu streifen auf der Suche nach dem Poeten, aber vergeblich.
Es war schon die Nacht zum Montag, als ihr Gefährte endlich wiederkam. Sein Blick war noch irrer als zuvor, er sagte kein Wort, setzte sich hin und trank schweigend bis zum nächsten Morgen.
Im ersten Licht jenes Montagmorgens begannen die Pilger wieder zu stürmen, und so ging es den ganzen Tag weiter. Die Sturmleitern der venezianischen Schiffe waren erfolgreich an einige Türme der Stadtmauern angelegt worden, die Kreuzritter waren in die Stadt eingedrungen, oder nein, es war nur ein
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einziger, ein Riese mit einem Helm wie eine turmbewehrte Stadt, der die Verteidiger mit Entsetzen erfüllt und in die Flucht getrieben hatte. Oder nein, jemand war an Land gesprungen, hatte eine Pforte in der Mauer gefunden, hatte sie mit Piken zerstört und ein Loch in die Mauer geschlagen, ja, aber dann waren sie zurückgedrängt worden, doch einige Türme waren bereits erobert...
Der Poet ging im Zimmer auf und ab wie ein Tier im Käfig, er schien ungeduldig darauf zu warten, daß die Schlacht sich für eine der beiden Seiten entschied, er sah Baudolino an, als wollte er ihm etwas sagen, verzichtete dann aber darauf und verfolgte mit düsterem Blick die Bewegungen seiner drei anderen
Gefährten. Nach einer Weile kam die Nachricht, daß
Murtzuphlos sein Heer im Stich gelassen und die Flucht
ergriffen hatte, woraufhin die Verteidiger das bißchen Mut, das ihnen noch geblieben war, verloren, so daß die Pilger vorstoßen und die Mauern überwinden konnten. Sie wagten allerdings nicht, tiefer in die Stadt einzudringen, da es bereits dunkelte, und begnügten sich damit, die ersten Häuser anzuzünden, um eventuell dort verschanzte Verteidiger zu vertreiben. »Die dritte Feuersbrunst in weniger als einem Jahr«, klagten die Genueser.
»Aber dies ist sowieso keine Stadt mehr, nur noch ein Haufen Müll, der verbrannt werden muß, wenn er zu groß wird.«
»Der Teufel soll dich holen!« fuhr der Boidi den Poeten an,
»Hättest du uns nicht warten lassen, wären wir längst aus diesem Müllhaufen raus! Was machen wir jetzt?«
»Halt's Maul, ich weiß schon, was ich tue«, fauchte der Poet zurück.
Die ganze Nacht über war der Widerschein des Brandes am Himmel zu sehen. Als es hell wurde, sah Baudolino, der zu schlafen schien, aber die Augen offen hatte, wie der Poet erst zu Boidi schlich, dann zu Boron und schließlich zu Kyot, um ihnen etwas ins Ohr zu flüstern. Danach verschwand er. Später
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