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Baudolino

Baudolino

Titel: Baudolino Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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auch seinen beiden Gefährten von jenem Priester, und sie waren sofort sehr angetan von dem Spiel und teilten ihm jeden vagen oder kuriosen Hinweis mit, den sie irgendwo in einer Handschrift fanden, um ihn die Myrrhen- und
    Weihrauchdüfte seines Indiens riechen zu lassen. Abdul
    erwärmte sich für die Idee, daß seine ferne Prinzessin, wenn sie denn fern sein mußte, ihre strahlende Schönheit sicher im fernsten aller Länder versteckte.
    »Ja«, meinte Baudolino, »aber auf welchen Wegen gelangt man nach Indien? Es kann nicht weit vom Irdischen Paradies entfernt sein, also im Osten des Ostens, wo die Erde aufhört und der Ozean beginnt...«
    Sie waren noch nicht bis zu den Vorlesungen über Astronomie gelangt und hatten sehr vage Vorstellungen über die Form der Erde. Der Poet war noch überzeugt, sie sei eine flache Scheibe, über deren Ränder die Wasser des Ozeans hinunterstürzen, Gott weiß wohin. Baudolino dagegen war von Rahewin - wenn auch mit einiger Skepsis - dahingehend belehrt worden, daß nicht nur die großen Philosophen der Antike und Ptolemäus, der Vater aller Astronomen, sondern auch der heilige Isidor versichert hätten, die Erde sei eine Kugel, ja Isidor sei sich dessen sogar so gutchristlich sicher gewesen, daß er den Umfang des Äquators auf achtzigtausend Stadien festgesetzt habe. Jedoch, hatte
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    Rahewin mit ausgebreiteten Händen gesagt, ebenso wahr sei, daß einige Kirchenväter, darunter der große Lactantius, daran erinnert hätten, daß der Bibel zufolge die Erde die Form eines Tabernakels habe, daß man also Himmel und Erde zusammen sehen müsse wie einen Schrein, einen Tempel mit seiner
    schönen Kuppel und seinem Boden, kurz, wie eine große
    Schachtel und nicht wie einen Ball.
    Rahewin selbst, der ein sehr vorsichtiger Mann war, hielt sich lieber an das, was der heilige Augustinus gesagt hatte, nämlich daß womöglich die heidnischen Philosophen recht hätten und die Erde rund sei und die Bibel nur bildlich von einem
    Tabernakel gesprochen habe, daß aber das Wissen um ihre Form nichts zur Lösung des einzigen schwerwiegenden Problems jedes guten Christen beitrage, nämlich wie man seine Seele rette, und daher sei es vertane Zeit, wenn man auch nur eine halbe Stunde über die Form der Erde nachdenke.
    »Das scheint mir richtig«, sagte der Poet, der es eilig hatte, in die Taverne zu gehen, »und es ist unnütz, nach dem Irdischen Paradies zu suchen, denn es muß ein Wunder an hängenden Gärten gewesen sein, und da es seit der Vertreibung Adams und Evas unbewohnt ist, hat sich niemand mehr um die Pflege und Sicherung der Terrassen gekümmert, und spätestens während der Sintflut muß alles in den Ozean abgerutscht sein.«
    Abdul hingegen war sicher, daß die Erde die Form einer Kugel hatte. »Denn wäre sie eine Scheibe«, argumentierte er mit unbestreitbarer Logik, »so müßte mein Blick - der durch meine liebe überaus scharf ist, wie bei allen Liebenden - in sehr weiter Ferne irgendein Zeichen der Gegenwart meiner Geliebten
    erspähen können, doch die Krümmung der Erde entzieht sie meinem Begehren.« Und nach einiger Suche in der Bibliothek der Abtei von Sankt Viktor hatte er Karten gefunden, die er seinen Freunden aus dem Gedächtnis aufzeichnete.
    »Die Erde ist umgeben vom Ring des Oceanus, und sie wird
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    von drei großen Wasserläufen geteilt, dem Hellespont, dem Mare Mediterraneum und dem Nil.«
    »Einen Moment, wo ist Osten?«
    »Hier oben natürlich, wo Asien liegt, und im äußersten Osten, genau da, wo die Sonne aufgeht, ist das Irdische Paradies. Links davon liegt der Berg Kaukasus und daneben das Kaspische Meer. Nun müßt ihr wissen, daß es von Indien gleich drei gibt, ein Groß-Indien, wo es sehr heiß ist, gleich rechts vom Paradies, ein Nördliches Indien, jenseits des Kaspischen Meeres, also hier oben links, wo es so kalt ist, daß das Wasser zu Kristall gefriert, und wo die Völker Gog und Magog leben, die Alexander der Große hinter einer Mauer eingesperrt hat, und schließlich noch ein Gemäßigtes Indien nahe bei Afrika. Und Afrika seht ihr hier rechts unten im Süden, wo der Nil verläuft und wo sich der Arabische Golf und der Persische Golf zum Roten Meer hin öffnen, auf dessen anderer Seite das Wüstenland liegt, das sehr nahe an der Äquatorsonne und daher so heiß ist, daß niemand sich dort hinwagen kann. Im Westen von Afrika, nahe bei Mauretanien, habt ihr die Inseln des Glücks oder die Verlorene Insel, die vor vielen Jahrhunderten

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