Baudolino
von einem Heiligen aus meiner Heimat entdeckt worden ist. Unten im Norden ist das Land, in dem wir leben, mit Konstantinopel am Hellespont und Griechenland und Rom, und im äußersten Norden die Germanen und die Insel Hibernia.«
»Aber wie kannst du so eine Karte ernst nehmen«, fragte der Poet feixend, »die dir die Erde als Scheibe präsentiert, wo du doch behauptest, sie sei eine Kugel?«
»Na überleg doch mal«, erwiderte Abdul ungehalten.
»Könntest du eine Kugel so darstellen, daß man alles sähe, was sich auf ihr befindet? Eine Karte muß dir den Weg zeigen, und beim Gehen siehst du die Erde nicht rund, sondern flach vor dir liegen. Und außerdem, auch wenn sie eine Kugel ist, ist die ganze untere Hälfte unbewohnt und vom Ozean besetzt, denn
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würde dort jemand leben, müßte er ja mit den Füßen nach oben und dem Kopf nach unten leben! Daher genügt ein Kreis wie dieser, um die obere Halbkugel darzustellen. Aber ich werde die Karten der Abtei noch besser studieren, auch weil ich in der Bibliothek einen Scholaren kennengelernt habe, der alles über das Irdische Paradies weiß.«
»Ach wirklich? War er dort, als Eva Adam den Apfel gab?«
fragte der Poet.
»Man braucht nicht an einem Ort gewesen zu sein, um alles über ihn zu wissen«, antwortete Abdul. »Sonst wüßten die Seeleute mehr als die Theologen.«
Dies alles nur, erklärte Baudolino seinem Zuhörer, um zu sagen, daß unsere Freunde schon in ihren ersten Jahren in Paris, als sie noch quasi bardos waren, sich auf jene Sache einzulassen begannen, die sie viele Jahre später bis an die äußersten Ränder der Welt fuhren sollte.
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7. KAPITEL
BAUDOLINO LÄßT BEATRIX
LIEBESBRIEFE UND DEN
POETEN GEDICHTE
SCHREIBEN
Im Frühling entdeckte Baudolino, daß seine Liebe immer
größer wurde, wie es Liebenden in dieser Jahreszeit ergeht, und daß sie durch die schalen Affären mit irgendwelchen Mädchen nicht befriedigt wurde, sondern sich durch den Vergleich ins Riesenhafte steigerte, denn Beatrix hatte außer dem Vorteil der Anmut, der Intelligenz und der königlichen Salbung auch noch den der Abwesenheit. Über die Reize der Abwesenheit hörte Abdul nicht auf, ihn zu quälen, indem er die Abende damit verbrachte, sein Instrument zu streicheln und weitere Lieder zu singen, so daß Baudolino schließlich, um sie voll zu genießen, auch Provenzalisch lernte.
Lanquan li jorn son lonc en mai, M' es bels doutz chans d'auzels de loing, E quan me sui partitz de lai, Remembra-m d'un'amor de loing...
Wenn lang die Tage sind im Mai, klingt süß mir Vogelgesang aus der Ferne, und seit ich diese Reise begonnen, gedenke ich unverwandt einer fernen Liebe.
Ich gehe so tief gebeugt vor Verlangen, daß weder Gesang noch blühender Weißdorn mir besser gefallen als eisiger Winter.
Baudolino sinnierte: Eines Tages wird Abdul die Hoffnung
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verlieren, jemals seine Prinzessin zu sehen. Oh, der Glückliche!
Mein Leid ist schlimmer als seines, denn ich werde meine Geliebte zweifellos wiedersehen müssen, früher oder später, und ich habe nicht das Glück, sie niemals gesehen zu haben, sondern das Unglück, zu wissen, wer sie ist und wie sie aussieht. Doch wenn Abdul Trost darin findet, uns sein Leid zu schildern, warum sollte ich dann nicht Trost darin finden, ihr das meine zu schildern? Mit anderen Worten, Baudolino hatte intuitiv erkannt, daß es sein Herzeleid mildern könnte, wenn er niederschrieb, was er empfand, und es tat ihm leid, wenn er dadurch dem Objekt seiner Liebe diese Schätze an Zärtlichkeit vorenthielt. So schrieb Baudolino in tiefer Nacht, während der Poet selig schlummerte: »Der Nordstern scheint auf den Pol, und der Mond erhellt die Nacht. Mir aber dient als Führer ein einziger Himmelskörper, und wenn nach dem Weichen der Dunkelheit mein Stern im Osten aufgeht, will man Geist nichts von des Schmerzes Düsternis wissen. Du bist mein lichtbringender Stern, der die Nacht vertreibt, denn ohne dich ist der Tag selbst finstere Nacht, mit dir jedoch ist die Nacht selbst hellichter Tag.«
Und weiter: »Wenn es mich hungert, sättigst du mich, wenn es mich dürstet, gibst du mir zu trinken. Doch was sage ich, du speisest mich, aber sättigst mich nicht. Denn nie bin ich deiner satt geworden, nie werde ich genug von dir haben...« Und abermals: »So groß ist deine Süße, so herrlich deine
Beständigkeit, so unbeschreiblich der Ton deiner Stimme, so wunderbar deine Schönheit und die sie krönende Anmut, daß es eine
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