Bauernjagd
Fotos
vom Schützenfest anzusehen. Sie waren allesamt im Speicher ihrer Digitalkamera.
Sie wusste eigentlich nicht, wonach sie suchte. Als sie die Festwiese erreicht
hatte, war Ewald Tönnes bereits tot gewesen, zumindest sagten das die Obduktionsergebnisse.
Es hatte also keinen Zweck, nach jemandem zu suchen, der nicht auf den Fotos
war – der Mörder hätte zu diesem Zeitpunkt längst wieder auf dem Fest sein
können.
Trotzdem sah sie sich die Bilder genau an, vor allem die, auf denen
Werner Zumbülte abgebildet war. Er stand mit ein paar alten Bauern aus der
Nachbarschaft am Rande der Festwiese. Zumbülte sah zwar nicht aus, als würde er
sich wohl fühlen, aber was hieß das schon. Er gehörte seit Langem nicht mehr
zur Gemeinschaft. Bei den Alten, die noch seinen Vater gekannt hatten, wurde er
zwar weiterhin mit offenen Armen empfangen – auch wenn sie seinen Entschluss,
die Ländereien zu verkaufen und in die Stadt zu ziehen, niemals akzeptiert
hatten. Doch die Jungen kümmerten sich kaum um ihn, für sie war er bereits ein
Fremder.
»Denkst du, ausgegrenzt zu werden, ist ein Mordmotiv?«, fragte sie.
Marita runzelte die Stirn. »Ehrlich gesagt, kann ich mir das nicht
vorstellen. Aber was wissen wir schon.«
Als die Einsegnungszeremonie vorüber war, setzte sich die Gemeinde
in Bewegung. Schulze Ahlerkamps direkte Nachbarn trugen den Sarg aus der
Friedhofshalle. Es ging nun zur Familiengruft.
»Lass uns hinten bleiben«, sagte Marita. »Dann können wir hier
verschwinden, bevor auf dem Parkplatz das Chaos ausbricht.«
In der vorbeiziehenden Menge tauchte das Gesicht von Melchior
Vesting auf. Er entdeckte Annika und warf ihr einen finsteren Blick zu. Seit
der Nacht auf seinem Grundstück hatte sie ihn nicht mehr gesehen. Unwillkürlich
machte sie einen Schritt zurück.
Dann entdeckte er Marita, und jetzt glaubte Annika erst recht einen
eisigen Wind zu spüren. Er fixierte ihre Schwester wie einen tollwütigen Hund,
der vor dem Lauf seines Jagdgewehrs aufgetaucht war. Annika glaubte schon, er
würde sich aus der Menge lösen und auf sie zugehen, doch dann war der Moment
vorbei, und Vesting folgte weiter dem Sarg.
»Hast du gemerkt, wie der dich angeguckt hat?«, fragte Annika ihre
Schwester.
»Nein, wieso?«
»Ich dachte schon, er hasst mich, aber im Vergleich dazu, wie er
dich angestarrt hat, hegt er für mich zärtliche Gefühle.«
Marita schien das nicht zu stören. »Was erwartest du von jemandem,
der Menschenfallen rund um seinen Hof aufstellt? Komm, lass uns aufschließen.«
Annika setzte sich in Bewegung. Sie achtete nicht auf die Zeremonie
am Grab, stattdessen schielte sie immer wieder zum Hinterkopf von Melchior
Vesting.
Nach der Beerdigung waren sie die Ersten, die auf dem Hof von
Clemens Röttger eintrafen. Annika hatte versprochen, bei der Bewirtung der
Gäste zu helfen. Sie rannte in die große Halle. Beinahe hätte sie sie nicht
wiedererkannt. Lange Tischreihen mit Blumengestecken und weißen Tischdecken
füllten den Raum. Kerzen brannten, sanftes Licht fiel von der Decke,
Porzellangedecke und gefaltete Servietten standen überall bereit. Neben dem
Eingang war die Theke aufgebaut worden, daneben ein großer Tisch für den
Kuchen: Bienenstich und der für Beerdigungen obligatorische Streuselkuchen.
Gabriele Röttger tauchte neben der Theke auf. Ihre Bewegungen
wirkten mechanisch, abwesend. Genau wie am Vormittag, als Annika sie in
Clemens’ Auto gesehen hatte.
»Hallo, Annika«, sagte sie tonlos und strich über eine Tischdecke.
»Sind die anderen drinnen? Soll ich denen was helfen?«, fragte
Annika.
»Das wäre gut.«
Sie verließ leicht irritiert die Halle und ging zu den anderen ins
Haus. Kurz darauf fuhren die ersten Wagen auf den Hof. Wenige Minuten später
hatte sich die Halle mit Menschen gefüllt. Annika trug die belegten Brötchen
hinüber. Zusammen mit den anderen Mädchen begann sie, Kaffee auszuschenken und
Kuchen zu reichen.
Die Leute unterhielten sich ruhig und in gedämpfter Lautstärke,
trotzdem entwickelte sich in der Halle ein erstaunlicher Geräuschpegel. Es war
beinahe unmöglich, ein Gespräch aufzuschnappen, während sie die Kuchenbleche
zwischen den Tischen balancierte.
Sie kehrte gerade mit einem leeren Blech zurück, als sie Renate
Uhlmann entdeckte. Sie betrat aufrecht und würdevoll den Raum. Langsam, ganz in
Schwarz, durchschritt sie die Halle.
»Guten Tag, Frau Uhlmann. Dort hinten am Tisch von Lütke-Woltering
ist noch Platz. Vielleicht möchten
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