Bauernopfer
behandelt fühle und daher jetzt gar nichts mehr sagen werde. Mit vorgeschobenem Kinn und durchgedrücktem Kreuz fragte er: »Bin ich jetzt verhaftet?«
Charly verneinte und wies darauf hin, dass lediglich der Beschluss zur Speichelprobe noch zum Vollzug anstehe und Gessler verpflichtet sei, diese Prozedur über sich ergehen zu lassen. Widerwillig reckte der Firmeninhaber den Hals, riss wie beim Zahnarzt den Mund auf, und Charly fuhrwerkte ihm mit der kleinen Wartebürste am Ende des Holzstäbchens in der Mundhöhle herum.
»Dann kann ich jetzt wohl gehen?«, fragte Gessler mit hochrotem Kopf, als die DNA-Probe gesichert war. »Ich werde in der Fertigung gebraucht.«
Charly fiel kein Grund ein, warum Gessler nicht hätte gehen können. Sie hatten gefunden, was sie zu finden gehofft hatten, und zu zweit die komplette Firma zu durchsuchen war von vorneherein utopisch. Also nickte er. Gessler drehte sich um und stapfte mit wehendem Jackett davon.
»Warum verhaft’ ma’n ned?«, wollte Helmuth wissen.
»Weil wir bis jetzt noch gar nix beweisen können. Und für’n Bichler hat er wahrscheinlich ein Alibi.«
»Hätt ma ned wenigstens noch sein Büro und den Schreibtisch durchsuchen sollen?«, hakte Helmuth nach.
Doch Charly winkte ab. »Da finden wir nichts Interessantes. Dass er Kontakt mit dem Bichler g’habt hat, gibt er ja offen zu. Und wenn’s wirklich was gibt, was keiner sehen darf, dann versteckt er’s nicht hier. Der is’ ja nicht blöd, der Gessler. Außerdem: Diese Schachtel«, er hob den Plastikbeutel mit der Puzzleschachtel in die Höhe, »die haben wir hier nur gefunden, weil er wahrscheinlich wirklich nicht g’wußt hat, dass die Pistole weg ist. Sonst hätt’ er doch die Schachtel auch verschwinden lassen. Ich glaub, der hat gar nicht mehr dran gedacht, dass er eine Pistole im Schrank liegen hat – oder gehabt hat.«
Die Ermittler durchquerten das Chefbüro und traten ins Vorzimmer, wo Charly wieder der Lavendelduft seiner Kindheit entgegenschlug. Von Gessler war nichts mehr zu sehen, aber die Sekretärin saß hinter ihrem Schreibtisch und war sichtlich darum bemüht, die ob des theatralischen Abganges ihres Brötchengebers kurzzeitig verloren gegangene Contenance wiederzugewinnen.
»Frau … äh … Berthold, richtig? Sie kennen das Zimmer neben dem Büro vom Chef?«, fragte Charly.
»Natürlich!« War der Papst katholisch? Sie schaffte es, in der kurzen Antwort zum einen Verwunderung, zum anderen ein gerüttelt Maß an Empörung darüber, dass ihr als der zentralen Schaltstelle im Betrieb diese Frage gestellt wurde, mitklingen zu lassen.
»Was erfüllt denn dieses Zimmer für einen Zweck?«
Man konnte förmlich sehen, wie sich ihr Verstand mit der Abwägung aller Konsequenzen beschäftigte: Verriet sie Betriebsgeheimnisse? Bestanden arbeits- oder tarifvertragliche Hemmnisse, die der Beantwortung entgegenstanden? Konnte der Chef etwas dagegen haben? War sie aufgrund der betriebsinternen Hierarchie nicht zur Antwort befugt? Doch die blitzschnelle Analyse fiel zugunsten der Polizeibeamten aus.
»Oft arbeitet der Chef bis spät in die Nacht in seinem Büro oder in der Halle. Grad wenn’s um neue Konstruktionspläne oder Umbauten für eine neue Produktionsreihe geht. Dann mag er nicht wegen ein paar Stunden heimfahren, b’sonders dann nicht, wenn’s ganz früh wieder weiter geht. Dann schläft er in dem Zimmer. Ich kümmer mich drum, dass in dem Kleiderschrank immer zwei frische Anzüge hängen, dass Hemden, Krawatten, Socken und Schuhe da sind und am Waschbecken Zahnpasta und Rasierschaum.«
»Wer in der Firma kennt denn das Zimmer?«
»Keine Ahnung, aber vermutlich wissen die meisten, dass es dieses Zimmer gibt.«
»Woher?«
Frau Berthold zuckte mit den Schultern: »Selber gesehen, gehört, was weiß ich.«
»Das Zimmer und das Büro vom Chef sind nach Feierabend versperrt, nehm ich an.«
»Das Zimmer kann man gar nicht zusperren und das Büro vom Herrn Gessler ist auf. Wir arbeiten in zwei Schichten bis um halb elf.«
Charly fiel auf, dass die Sekretärin ›wir‹ sagte, obwohl sie bestimmt nicht bis halb elf arbeitete. Aber sie war ein fester Teil der Firma und identifizierte sich damit.
»Da kommt es öfter mal vor, dass jemand aus der Spätschicht etwas auf einem Plan nachschauen muss, der beim Chef im Büro liegt«, erklärte Frau Berthold weiter. »Für Sachen, die niemand sehen soll, gibt’s einen absperrbaren Aktenschrank und eine Schreibtischschublade.« Sie
Weitere Kostenlose Bücher