Bauernopfer
dasselbe. Gessler deutete in Richtung seines Büros und ging voraus.
Zu Charlys Überraschung öffnete er dort eine schmale Tür in der Holzvertäfelung, die sie beim ersten Besuch im Chefbüro gar nicht wahrgenommen hatten. Dahinter lag ein schmaler, länglicher Raum, der an ein altmodisches Pensionszimmer erinnerte. Durch ein Fensterchen an der Stirnseite des Zimmers ließ die Herbstsonne, wenn die Wolkenfetzen es zuließen, den weißen Spitzenvorhang aufleuchten und machte strahlenweise den Staub in der Raumluft sichtbar. Unter dem Fenster stand ein Nachttisch samt Reisewecker und daneben an der Wand ein schmales Bett, das mit einer bieder geblümten Tagesdecke verhüllt war. Ein nicht ganz mannshoher, dreitüriger Kleiderschrank im Stil der siebziger Jahre nahm den größten Teil der anderen Längsseite ein. Gessler öffnete die linke der drei Schranktüren. Er deutete auf einen flachen Karton mit dem Bild einer Südtiroler Bergkapelle und dem Aufdruck ›Ravensburger Puzzle – 2000 Teile‹. Ein handschriftliches Klebeetikett wies den Inhalt als ›Privat‹ aus.
Als er sich nach dem Karton bückte, hielt Charly ihn zurück. Er streifte sich blaue Einweghandschuhe über, nahm den Karton selbst aus dem Schrank und öffnete den Deckel. Die Schachtel war leer. Das heißt, leer war nicht richtig, denn in der Schachtel befanden sich ein ölfleckiger Baumwolllappen, ein kleines Fläschchen mit Waffenöl, eine runde Reinigungsbürste und vier Patronen vom Kaliber 7,65mm. Eine Pistole aber lag nicht darin, in dieser Hinsicht war die Schachtel leer.
Gesslers Kinn klappte nach unten. Ungläubig stierte er in die Schachtel, die Charly ihm entgegenhielt. »Ich bin genauso überrascht wie Sie, meine Herren«, war das Erste, was ihm dazu einfiel. »Da hat wohl jemand mein Vertrauen missbraucht.«
»Oh, ich weiß, wie Sie sich jetzt fühlen müssen«, säuselte Helmuth im Stile eines Telenovela-Soziologen und erntete dafür einen höchst ärgerlichen Blick von Gessler und einen tadelnden von Charly.
»Wir haben Ihre Pistole gefunden. Sie lag in der Hand vom toten Bichler.«
Die Überraschung zwang Gessler in die Knie. Er ließ sich ächzend nach hinten aufs Bett plumpsen und sah Charly mit großen Augen an. »Aber … das ist doch …«
»Haben S’ da irgendeine Erklärung dafür?«
»Nein! Wie denn? Ich war doch zu der Zeit gar nicht da, … war in Malaysia.«
»Vielleicht haben S’ die Waffe vorher jemand gegeben?«
»Nein!«
»Vielleicht mit dem Auftrag, den Bichler zu erschießen.«
»Quatsch!« Gessler sprang wieder auf, fuchtelte mit den Armen und wurde laut. »Was wollen Sie mir denn da unterstellen? Müssten Sie mir nicht jetzt meine Rechte vorlesen?«
»Sie schau’n zu viele amerikanische Krimis«, bemerkte Helmuth lapidar.
Charly erklärte, das seien alles nur Routinefragen, und man befinde sich immer noch bei einem so genannten informatorischen Gespräch. Wenn er allerdings genauer darüber nachdachte, hatte Gessler natürlich recht. Aber wenn ein Tatverdächtiger darauf hingewiesen wurde, dass er keine Aussage machen müsse und keine Fragen zu beantworten brauche, hatte das oft zur Folge, dass die Klienten wirklich nichts mehr sagten. Daher entschied Charly für sich, dass er aus rechtlicher Sicht mit der Belehrung noch ein wenig warten konnte. Stattdessen fragte er mit Blick auf die Patronen in der Schachtel, ob diese Gesslers gesamten Besitz an Munition darstellten.
»Ein paar Patronen waren beim Kauf dabei. Das meiste davon habe ich damals im Steinbruch verballert. Im Magazin waren noch ein paar Schuss und das hier ist der Rest. Ich hab nie Munition gekauft.«
»Das macht’s auch nicht besser«, brummte Helmuth und Charly hätte ihn für diese unnötige Äußerung und die unprofessionelle Art, mit der er zeigte, wie sehr ihm Gessler zuwider war, am liebsten geohrfeigt.
»Ich glaub, ich ruf jetzt meinen Anwalt an.« Gessler war nicht mehr der sympathische, joviale Geschäftsmann. Er hatte sich in einen schwitzenden, wutschnaubenden Bluthochdruckpatienten verwandelt, der sich nunmehr weigerte, den Kriminalern weiter Auskunft zu geben. Zwar dachte er zunächst noch über eine Antwort nach, als Charly, der unterdessen die Puzzleschachtel in einen Plastikbeutel verpackte, ihn fragte, wer von den Arbeitern und Angestellten im Betrieb diesen Raum kenne. Dann schaltete er aber auf stur und verkündete trotzig, dass er sich hier in unzulässiger und vor allem ungerechter Weise als Verdächtiger
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