Baustelle Demokratie
selbst. So wie sich Gerechtigkeit nicht ohne Berücksichtigung des konkreten Kontextes definieren lässt (vgl. Forst 1994), verhält es sich auch mit dem Gesellschaftsvertrag. Als normative Grundbedingungen lassen sich Transparenz, Verständigungsorientierung, Fairness, Reversibilität und Öffentlichkeit ausmachen. Sobald es aber an konkrete Aushandlungssituationen geht, löst sich der eine fiktive Gesellschaftsvertrag in zahlreiche konkrete »Verträge« auf. Dafür gibt es mittlerweile viele Beispiele, die alle unter Beteiligung des bürgerschaftlichen Engagements zustande gekommen sind. So ist es in den letzten Jahren in vielen Kommunen Deutschlands beinahe selbstverständlich geworden, dass Kindertagesstätten, Schulen, Bibliotheken und andere Kultureinrichtungen nicht mehr ohne Beteiligung von Eltern, Fördervereinen, Bildungs-, Verkehrserziehungs-, Umwelt-, Kultur- und Demokratieprojekten betrieben werden.
Eines der größten und bedeutsamsten Kapitel ist gerade erst aufgeschlagen worden: Bei der vieldiskutierten Energiewende wird es ganz entscheidend darauf ankommen, wie Staat, Wirtschaft und Bürgergesellschaft miteinander »ins Gespräch« kommen. Denn nach altem Muster wird sich die ökologisch motivierte Umstellung der Energieversorgung in Deutschland mit seinem hohen Versorgungsstandard nicht bewerkstelligen lassen. Weder wird der Staat – wie der durch bürgerschaftliches Engagement erzwungene Ausstieg aus der Kernenergie eindrucksvoll gezeigt hat – weiterhin Energiepolitik »von oben« betreiben können. Noch wird die Energiewirtschaft die oligopolistische Politik der »großen Vier« (E.on, RWE, Vattenfall, EnBW) weiterführen können. Ohne massive Bürgerbeteiligung und die Kreativität von Menschen »vor Ort« wird weder das Problem der Stromtrassen noch das einer dezentralen Versorgung mit Energie gelöst werden können. Bei der Energiewende geht es um Geld und Lebensqualität und – den künftigen Zustand der Demokratie. Sie wird der Lackmustest für eine Politik der Bürgergesellschaft werden.
Abschließend lassen sich einige Punkte aufzählen, die für eine Politik für die Bürgergesellschaft wichtig wären. Wer das bürgerschaftliche Engagement als zentrales Element demokratischer Politik versteht, muss diese grundlegenden Aspekte diskutieren und in Angriff nehmen. Bürgergesellschaft braucht zu ihrer vollen Entfaltung
ein garantiertes (zumindest lebenslagenbezogenes) Grundeinkommen für Menschen, die aus eigener Kraft nicht die Ressourcen für ein menschenwürdiges Leben aufbringen können und daher von demokratischer Teilhabe und bürgerschaftlichem Engagement ausgeschlossen sind;
eine Demokratie-Enquete des Deutschen Bundestages, die systematisch die Potenziale für eine Vitalisierung der Demokratie durch eine aktive Bürgergesellschaft ausloten und damit ein weithin sichtbares öffentliches Zeichen setzen würde;
eine Engagementstrategie des Bundes , die unter echter Beteiligung nichtstaatlicher Akteure (Wirtschaft und Bürgergesellschaft), aber auch der föderalen Ebenen die Grundlage für eine im engeren Sinne strategische Ausrichtung von Engagementpolitik schaffen würde;
eine Dritte Kammer als Bürgergesellschaftskammer neben Bundestag und Bundesrat, die an zentraler Stelle und turnusmäßig am Prozess der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung beteiligt werden soll;
Bürgerbeteiligungsgesetze , die das bisherige öffentliche Bau- und Planungsrecht um umfassende Mitsprachemöglichkeiten in allen Phasen von Großprojekten ergänzen;
eine Entschuldung der Kommunen durch den Bund, die den Städten, Gemeinden und Landkreisen wieder Freiräume für eine echte Gestaltung des Gemeinwesens schaffen und dem Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung zu neuer Blüte verhelfen würde;
die Aufhebung des Kooperationsverbots zwischen Bund und Kommunen , welches das wesentliche Hindernis für die gemeinschaftliche föderale Finanzierung der Infrastruktur für bürgerschaftliches Engagement bildet und dem Bund die Wahrnehmung seiner gesamtstaatlichen Verantwortung versagt;
eine Reform des Gemeinnützigkeitsrechts , bei der sinnvoll neu definiert wird, was überhaupt als gemeinnützig gilt;
eine sinnvolle Verbindung von bürgerschaftlichem Engagement und Erwerbsarbeit , mit welcher der Weg einer auf Zwang gegründeten Sozial- und Arbeitsmarktpolitik verlassen würde und welche die im Engagement entstehenden Potenziale und Fähigkeiten als Grundlage für neue Geschäftsmodelle und
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