Baustelle Demokratie
Pflege, Obdachlosenhilfe, Jugend- und Altenhilfe sind einerseits stark vom freiwilligen Engagement getragen, andererseits sind sie aber auch heute zu Wirtschaftsunternehmen mit Milliardenumsätzen und vielen tausend Beschäftigten geworden. Zwar verstehen sie sich als »Non-Profit-Organisationen«, weil die Gewinne, die sie mit sozialer Arbeit erzielen, nicht an private Eigner ausgeschüttet werden, sondern im Unternehmen verbleiben. Doch sind sie zugleich darauf angewiesen, »profitabel« zu arbeiten, weil die staatliche Förderung nach betriebswirtschaftlichen Kriterien vergeben wird. Seit der Umstellung der Finanzierung der freien Wohlfahrtspflege vom Kostendeckungsprinzip auf Pauschalen befinden sich diese Organisationen in einem Wettbewerb um möglichst kostengünstige Leistungserbringung. Früher haben sie vom Staat einfach die tatsächlich anfallenden Kosten für soziale Leistungen erstattet bekommen. Jetzt erhalten die Träger Pauschalbeträge unabhängig von den tatsächlichen Kosten, was dazu führt, dass sich bei kostengünstiger Leistungserbringung erhebliche Rücklagen bilden lassen. Dies begründet zum einen die Tendenz zur Etablierung eines Niedriglohnsektors in der Wohlfahrtspflege. Zum anderen hat sich im Zuge von »Outsourcing« eine undurchschaubare Struktur von organisatorischen Verschachtelungen herausgebildet, die es der öffentlichen Hand nahezu unmöglich machen, die Arbeit und vor allem die Finanzen der Träger angemessen zu kontrollieren. Anfang 2010 geriet die gemeinnützige Berliner Treberhilfe mit dem, was – völlig legal – alles möglich ist, in die Schlagzeilen: Ferrari samt Chauffeur als »Dienstwagen«, privat genutzte Luxusvillen in exquisiter Lage, üppige Managergehälter in den Chefetagen. Dazu kommt eine »geschlossene Gesellschaft«, wenn es um die Vergabe von Fördermitteln geht. Neue, innovative Träger, die sich mit viel Engagement im Bereich sozialer Dienstleistungen zu etablieren versuchen, sind nahezu chancenlos bei der Akquise staatlicher Fördermittel.
Um nicht missverstanden zu werden: Es geht hier nicht um eine pauschale Schelte von Wohlfahrtsorganisationen, die sich – neben ihrer operativen Arbeit – als oft einzig vernehmbare Stimme öffentlich gegen Armut und miserable soziale Zustände in Deutschland wenden. So wurde die Diskussion über die Regelsätze bei »Hartz IV« ganz wesentlich durch die kritische Expertise und politischen Interventionen des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes befeuert und vor allem um konstruktive (und von der Politik ignorierte) Vorschläge bereichert. Und die AWO war wesentliche Initiatorin für das »Bündnis Kindergrundsicherung«, das sich mit konkreten Vorschlägen gegen die Kinderarmut in Deutschland wendet. Als Anwalt der Ausgegrenzten und Schwachen in der Gesellschaft besitzen die Wohlfahrtsverbände aber letztlich nur dann umfassende Glaubwürdigkeit, wenn sie sich selbst an die Prinzipien Offenheit, Transparenz und Fairness halten. Nur so können sie – als hybride Organisationen zwischen Staat und Bürgergesellschaft situiert – entscheidende Impulse für die Restituierung von sozialer Demokratie in Deutschland geben und ihren Beitrag zu tragfähigen Governance-Strukturen leisten.
Bürgerbeteiligung in spe
Die Demokratie sorgt von jeher für ambivalente Gefühle. Schon in »Meyer’s Conversations-Lexicon« von 1846 findet sich die geistreiche Bemerkung, dass die Demokratie, verstanden als »demokratisches Princip«, von »einem Theile der Menschheit ersehnt und erkämpft, vom anderen gefürchtet, gehaßt und verbannt« werde (Meyer 1846, 134ff.). Dem »demokratischen Princip« steht das »aristokratische Princip« entgegen – »Gleichheit der Rechte und Pflichten« versus »Privilegien und Vorrechte« (ebd.). Zwar sind wir heute in einer vollkommen anderen historischen Situation als zu Zeiten des Vormärz im 19. Jahrhundert. Die Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform hat sich nicht nur rechtlich, sondern auch kulturell zumindest hierzulande als breiter Konsens durchgesetzt. Und doch hat auch bei uns das »aristokratische Princip« bis heute überdauert. Obschon de jure alle Menschen rechtlich gleichgestellt sind, gibt es faktisch nach wie vor Privilegien und Vorrechte, und all diejenigen, die solche Privilegien und Vorrechte genießen, trachten in der Regel danach, sie nicht dem »demokratischen Princip« opfern zu müssen.
Demokratie zielt ihrem Wesen nach darauf, alle Unterschiede in der Behandlung
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