Beautiful Losers
trägt ihn über die Prärien, wo der Mais erwacht und der Bär in seiner Winterhöhle. Er fließt über Ontario hinweg wie ein legislativer Traum und schleicht nach Québec, in die Dörfer, in die Birkenstände. In Montréal schießen Cafés aus dem Boden wie Tulpen aus einem Beet, sie sprießen aus Kellern und zeigen sich mit Stühlen und Markisen. Der Frühling in Montréal ist wie eine Autopsie. Jeder will die Eingeweide des gefrorenen Mammuts sehen. Mädchen reißen die Ärmel von den Blusen und greifen in das süße, weiße Fleisch, wie Holz unter grüner Borke. Auf den Straßen erhebt sich ein sexuelles Manifest, wird hochgepumpt wie ein Auto beim Reifenwechsel. »Wieder einmal hat uns der Winter nicht umgebracht!« Der Frühling erreicht Québec von Japan her und explodiert wie eine altmodische Knalltüte, weil wir uns zu wild um sie gerissen haben. Der Frühling erreicht Montréal wie eine amerikanische Filmromanze, die an der Riviera spielt, jeder muss mit einem Fremden schlafen, plötzlich flackern die Lichter im Haus und es ist Sommer, was uns nicht weiter stört, wir finden ohnehin, dass er etwas zu aufdringlich ist, zu feminin vielleicht, wie die Bezüge auf den Klodeckeln von Hollywood. Der Frühling ist ein Import aus exotischen Ländern, wie Fetischkleidung aus Gummi, die in Hongkong hergestellt wird, wir brauchen ihn nur für einen einzigen, besonderen Nachmittag und haben nichts dagegen, wenn am nächsten Tag die Zölle angehoben werden. Frühling ist wie eine schwedische Studentin, die kurz durch unser Leben streift, sie tritt in ein italienisches Restaurant, um Erfahrung mit Schnurrbärten zu sammeln, und wird von uraltem Valentino überrannt – es sind Comicfiguren, von denen sie einen, irgendeinen nimmt. Der Frühling ist so kurz in Montréal, du kannst dir den Tag freihalten und brauchst auch nichts zu planen.
Es war ein solcher Tag in einem geschützten Waldgebiet südlich der Stadt. Ein alter Mann stand an der Schwelle seiner seltsamen Wohnung, eines völlig ramponierten Baumhauses, das wacklig schien wie das Versteck einer geheimen Jungenbande. Er hätte nicht sagen können, wie lange er dort oben gehaust hatte, er fragte sich nur, warum er aufgehört hatte, die Hütte mit seinen Exkrementen zu beschmutzen, ging der Frage dann aber nicht nach. Er roch den Duft der westlichen Brise, untersuchte einige Tannennadeln, deren Spitzen vom Winter schwarz waren, verkohlt wie nach einem Buschfeuer. Der frische Duft, den die Brise herantrug, löste keinen Stich der alten Sehnsucht in seinem Herzen aus, das unter einem verfilzten, schmutzigen Bart lag. Er blinzelte nur leicht, als ihn ein Hauch von Schmerz berührte, wie Zitronensaft, der von einem fernen Tisch herüberspritzt: Tief in seinem Gedächtnis suchte er nach einem vergangenen Ereignis, mit dem er den Wechsel der Jahreszeit mythisch aufladen könnte, Flitterwochen vielleicht, ein Spaziergang, ein Triumph, den dieser Frühling neu erstehen lassen könnte, doch sein Schmerz wurde nicht fündig. Das Gedächtnis brachte nichts auf – alles war ein einziges, viel zu schnell entströmendes Ereignis, es lief aus wie ein Spucknapf bei einem Schülerstreich. Es schien noch gar nicht lange her, dass bei minus zwanzig Grad der Wind durch schneebeladene Zweige eines Tannenforstes fuhr, ein Wind von tausend Handbesen, die im Schatten dunkler Äste winzige Hurrikane aufwirbelten. Auch weiter unten lagen noch Inseln von schmelzendem Schnee, wie die Bäuche gestrandeter, verwesender Fische. Auch heute war wieder ein wunderschöner Tag.
– Bald wird es wärmer, sagte er laut. Bald werde ich wieder anfangen zu stinken, meine Hose, die im Moment nur steif ist, wird wahrscheinlich klebrig sein. Aber das macht mir nichts.
Auch den offensichtlichen Schwierigkeiten, die der Winter mit sich bringt, hatte er sich nicht gestellt. Natürlich war er nicht immer so gewesen. Vor Jahren (?), als ihn eine fruchtlose Suche oder eine Flucht den Baum hinaufgejagt hatte, konnte er die Kälte nicht ertragen. Die Kälte ergriff die Hütte wie eine Bushaltestelle, der Frost warf sich auf ihn mit einem Zorn, der kleinmütig und absolut persönlich schien. Die Kälte wählte ihn wie eine Pistolenkugel, die den Namen eines Querschnittsgelähmten längst eingraviert hat. Keine Nacht, in der der Frost ihn nicht fand, keine Nacht, in der er nicht vor Schmerzen weinte. Nur diesen Winter war die Kälte an ihm vorbeigezogen, als hätte sie größere Reisepläne, er fror sich
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