Beck Wissen - Materie - Von der Urmateria zum Leben
Bewegungsgleichung der Quantenmechanik (‚Schrödingergleichung‘) beschrieben wird. Die Schrödingergleichung genügt dem Linearitäts- bzw. Superpositionsprinzip, d.h. die anfänglich getrennten Zustände überlagern sich zu einem Gesamtzustand (einer Superposition bzw. Linearkombination beider Teilzustände) mit unbestimmten Eigenwerten. Tatsächlich zeigt der Meßapparat zu diesem Zeitpunkt einen definiten Meßwert an. Die (lineare) Dynamik der Quantenmechanik (nach von Neumann) kann daher den Meßprozeß nicht erklären.
Dieses Problem läßt sich auch durch Schrödingers Katzenparadoxon veranschaulichen, wobei die Katze im geschlossenen Stahlkasten als Meßanzeige für die Zustände ,tot‘ bzw. ,lebendig‘ dient. Im Sinn der Quantenmechanik wird nur eine Superposition beider Zustände ,tot‘ und ,lebendig‘ vorausgesagt, während beim Ableseakt auf dem Meßgerät, d.h. beimÖffnen des Kastens, die Katze definit entweder tot oder lebendig ist. Allerdings muß bei dieser Veranschaulichung beachtet werden, daß ein Meßapparat (und mit Sicherheit eine Katze) ein makroskopisches System mit Energieaustausch mit seiner Umwelt ist, auf das strenggenommen die Quantenmechanik (nach von Neumann) nicht anwendbar ist.
Für Albert Einstein waren Superpositionsprinzip und Unbestimmtheitsrelation Anlässe, um die Vollständigkeit der Quantenmechanik zur Beschreibung der Materie im Mikrobereich anzuzweifeln. Im gleichen Jahr 1935 wie Schrödingers Katzenparadoxon veröffentlichte er mit Podolsky und Rosen eine berühmte Arbeit, in der er den Realismus der klassischen Physik gegenüber der Quantenmechanik verteidigt. {34} Dabei kritisiert er, daß die Quantenmechanik korrelierte materielle Systeme vorsieht, die nicht in lokale Teilsysteme getrennt werden können, obwohl keine physikalische Wechselwirkung stattfindet. {35} Schrödinger sprach von „verschränkten“ Systemen, die keine Lokalisierung bzw. Separierung in Teilzustände der Teilsysteme zulassen. In den heutigen EPR (= EinsteinPodolsky-Rosen)-Experimenten können z.B. Photonenpaare analysiert werden, die aus einer zentralen Quelle in entgegengesetzter Richtung auf polarisierte Filter fliegen. Die Korrelationen der Polaritätszustände werden als Superpositionen korrelierter Photonen verstanden. Zwei voneinander weit entfernte Elementarteilchen (wie die auseinanderfliegenden Photonen), die über keinerlei Mechanismus miteinander wechselwirken, können dennoch miteinander in Beziehung stehen. Aufgrund der Korrelation bestimmt nämlich eine an einem System vorgenommene Messung im selben Augenblick das Ergebnis einer Messung an den anderen Systemen. Das ist natürlich bei zwei auseinanderfliegenden Fußbällen nicht ohne weiteres möglich.
Die EPR-Korrelation von Meßergebnissen in EPR-Experimenten läßt sich also vom Standpunkt der klassischen und relativistischen Physik aus nicht verstehen, wird aber von der Quantenmechanik präzise vorausgesagt. Demgegenüber war für Einstein das klassische Lokalitätsprinzip der Materie fundamental. 1964 bewies John Bell, daß sich für jede lokal- realistische Theorie eine Ungleichung ableiten läßt, die im Widerspruch zu Voraussagen der EPR-Korrelationen aus der Quantenmechanik steht. Diese EPR-Korrelationen der Quantenmechanik wurden durch EPR-Experimente (z.B. Aspect 1981) hochgradig bestätigt. Auch Einstein hatte die Korrektheit des mathematischen Formalismus der Quantenmechanik nie in Zweifel gezogen, sondern seine Unvollständigkeit kritisiert. Lokal-realistische Theorien der Materie müssen also als alternative Erklärungen von Quantenphänomenen fallengelassen werden. {36}
Eine realistische Deutung der Quantenmechanik muß daher gewohnte Vorstellungen der Materie aus der klassischen Physik aufgeben. Wenn die Observable eines Quantensystems unbestimmte Werte hat, dann kann es sich nicht nur um subjektives Unwissen eines Betrachters, sondern eine objektive Eigenschaft der Materie handeln. Heisenberg u.a. haben daher Observablen als Potentialitäten der Materie aufgefaßt, um mögliche Werte zu produzieren. Der definite Wert einer Observablen ist dann im Sinne des aristotelischen Realismus eine „Aktualisierung der Potenz“ (vgl. Kap. I.2). Eine klassische Observable, wie sie in Systemen der klassischen Physik auftritt, beschreibt eine Potentialität der Materie, die in allen Zuständen aktualisierte (definite) Werte hat. Nicht-klassische Observablen, wie sie in Quantensystemen auftreten, entsprechen
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