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Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!

Titel: Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M. Schroeder
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diese Art von Hunger überstieg alles, was sie bisher hatte ertragen müssen. Zu wissen, dass man das Wenige, das die Mutter auf den Tisch brachte, mit allen teilen musste, war eine bittere Sache. Aber man hatte sich damit abzufinden, weil daran nun mal nichts zu ändern war. Eine ganz andere Sache war es jedoch, Geld genug in der Tasche zu haben, um seinen Hunger stillen zu können, sich aber zwingen zu müssen, mit diesem wütenden Hunger zu leben und den tausend Verlockungen zu widerstehen, die einen zu Fall zu bringen versuchten.
    Becky hielt durch. Eisern. Wenn sie fürchtete, schwach zu werden, hielt sie sich das Versagen des Vaters und die unermüdliche Ausdauer und Duldsamkeit der Mutter vor Augen. Sie wollte nicht ein Versager wie der Vater sein, sondern so unbeirrbar stark und mutig wie die Mutter! Auch rief sie sich immer wieder ins Gedächtnis, dass es nicht um etwas ging, was nur sie allein betraf, sondern dass auch Daniels Wohlergehen auf dem Spiel stand. Wenn sie den Teufelskreis bitterster Armut einmal durchbrechen wollte, musste sie jetzt durchhalten, wie kraftlos und verzweifelt sie sich manchmal auch fühlte!
    Sie lebte überwiegend von Obst- und Gemüseabfällen, die sie früh am Morgen auf dem Fulton Markt vom Boden auflas. Manchmal erbettelte sie sich aber auch mittags bei der Mission oder bei den Quäkern eine dünne Wassersuppe und trieb sich am frühen Abend meist in der Bowery vor den Theaterhäusern herum, die sich mit ihren deftigen Komödien, Singspielen, erotischen Darbietungen, Revuen und Auftritten von Sensationsdarstellern von den glanzvollen Theatern und Opernhäusern der vermögenden Bürgerschicht so sehr unterschieden wie der Tag von der Nacht.
    Viele Theaterbesucher in der Bowery hatten die Angewohnheit, vor Beginn der Darbietung noch auf der Straße einen Imbiss zu sich zu nehmen. Wenn dann die Zeit nicht mehr reichte, um den gebratenen Hühnchenschenkel oder den gebutterten und gesalzenen Maiskolben ganz abzunagen, warfen sie die Reste einfach auf die Straße. Und dann gehörte Becky oft genug zu den Straßenkindern, die dort herumlungerten, sich auf diese Abfälle stürzten - und sich manchmal auch darum schlugen. Setzte ihr der Hunger tagsüber so sehr zu, dass sie meinte, das Rumoren und Ziehen in ihrem Magen nicht länger ertragen zu können, überwand sie sich, auch in den Abfalltonnen, die sie nach Haaren und Lumpen durchwühlte, nach Essbarem zu suchen.
    Ihre selbst auferlegte Tortur nicht nur vor Daniel, sondern auch vor Coffin und Timothy geheim zu halten, fiel nicht sonderlich schwer. Sie alle gingen unterschiedlichen Tätigkeiten nach, sodass sie sich tagsüber selten einmal zufällig begegneten. Und wenn sie sich nach Einbruch der Dunkelheit an ihrem Lagerplatz im Central Park einfanden, waren auch die Jungen meist so müde, dass ihnen der Blick für ihr stilles Leiden fehlte.
    Mitte August beschlich jedoch Coffin eine gewisse Ahnung, was Becky sich antat, um so rasch wie möglich die nötigen vierundachtzig Cent zusammenzusparen. Ihm fiel auf, wie schmal und eingefallen sie im Gesicht geworden war. Weil er ihren Stolz kannte, sprach er sie nicht direkt darauf an, sondern brachte nun abends des Öfteren einen Kanten Brot und Äpfel mit, gelegentlich sogar Fleischstücke, die er aus der Küche irgendeiner Taverne mitgehen ließ.
    »Red nicht, sondern iss«, sagte er leise und schob ihr das Essen im Dunkeln zu, als sie anfangs so tat, als wüsste sie nicht, warum er gerade ihr Brot, Äpfel und sogar gebratenes Fleisch mitbrachte.
    Aber auch dann bestand Becky darauf, alles mit Daniel zu teilen, hatte ihr Bruder, der in den letzten Monaten ein gutes Stück in die Länge geschossen war, doch ständig Hunger.
    In dieser Zeit litt Daniel häufig unter Albträumen, und manches Mal rüttelte Becky ihn wach, um ihn aus seinen bösen Träumen zu holen.
    »Ich habe geträumt, ich hätte dich in einer Stadt, die ich nicht kenne, verloren und wäre ganz allein auf mich gestellt«, sagte er einmal, als sie wissen wollte, was ihn denn so sehr gequält hatte. »Alles war so entsetzlich fremd, und ich habe nicht gewusst, was ich tun sollte und ob ich dich jemals wiederfinden würde.«
    »Ach Daniel«, sagte sie und strich ihm über das Haar. »Wo solltest du denn schon verloren gehen? Wir kennen hier in New York doch bald jede Gasse und jeden Stein. Und ich werde immer für dich da sein.«
    »Wirklich?«
    »Natürlich!«
    »Aber wenn das nun doch einmal passiert und ich verloren

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