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Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!

Titel: Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M. Schroeder
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schreiend in ihrem Blut auf dem Bürgersteig, gegen die Hauswand gelehnt oder mitten im Dreck der Straße. Andere konnten sich nicht mehr aus eigener Kraft aufrecht halten und wurden von ihren Freunden weggetragen. Und dann waren da noch die Toten mit ihren entsetzlichen Wunden und im Tod verrenkten Gliedern, die von schluchzenden, wehklagenden Angehörigen oder Kameraden aus den Trümmern der Barrikaden hervorgezogen wurden.
    Zwei Männer, die dreckige und blutgetränkte Verbände um ihren Kopf trugen, zogen einen flachen Leiterwagen, auf den sie zwei der Toten gelegt hatten, an Becky und Daniel vorbei.
    Becky wollte schon weiterlaufen, als Daniel neben ihr entsetzt aufschrie. »Das ist Vater!«
    Wie von einem Peitschenhieb getroffen fuhr sie herum, und ihr war, als setzte ihr Herz aus, als auch sie ihren Vater erkannte.
    Schweigend blieben die Männer stehen, als Becky und ihr Bruder zu ihnen stürzten und sich über den Leichnam ihres Vaters beugten. Mit leblosen Augen starrte er an ihnen vorbei in die Dämmerung, die den Abendhimmel mit rötlichen Schlieren überzog, als wäre auch er in das vergossene Blut getaucht. Eine Kugel hatte seine Kehle aufgerissen. Das Blut, das Becky auf ihren Händen spürte, als sie seinen Kopf anhob, war noch warm.

18
    B ECKY und Daniel brachten nicht einmal die paar Shilling zusammen, die ein Leihsarg kostete, geschweige denn genug Geld, um den Vater neben der Mutter beisetzen zu lassen. So mussten sie voller Bitterkeit zusehen, wie sein Leichnam in einem namenlosen Armengrab auf Potter’s Field unter die Erde kam, zusammen mit anderen toten Barrikadenkämpfern aus Five Points, die mittellose Familien hinterlassen hatten.
    Auch wenn ihnen der Vater in den letzten Jahren immer fremder geworden war und sie oft genug mehr Abscheu als Zuneigung, ja manchmal sogar eine Art von Hass für ihn empfunden hatten, so traf sie sein plötzlicher Tod doch tiefer, als sie vermutet hätten. Zwar brachte sein Tod keinerlei Auswirkungen auf ihr materielles Elend, hatte er seine Verantwortung für sie doch schon zu Lebzeiten aufgegeben, aber das Bewusstsein, nun ganz allein auf der Welt zu stehen und zu den »Dead End Kids« zu gehören, war dennoch niederdrückend.
    »Jetzt sind wir Waisen«, sagte Daniel und kämpfte mit den Tränen.
    »Das waren wir vorher schon!«, erwiderte Becky betont nüchtern und in wütender Abwehr des Schmerzes, den auch sie vor sich selbst nicht leugnen konnte. Aber was brachte es, wenn sie in Trübsinn und Mutlosigkeit verfiel? Ihr Bruder brauchte jetzt Zuspruch, und sie war entschlossen, alles zu tun, um diesem Elend irgendwie zu entkommen. Deshalb fügte sie sogleich noch hinzu: »Wir werden uns schon durchschlagen, Bruderherz. Denk daran, was Mom zu uns gesagt hat: ›Ein Brown lässt den Kopf nicht hängen!‹ Und du hast mehr Mumm und Durchhaltewillen in deinem Leib, als Vater je besessen hat! Du bist nun mal aus dem harten Holz geschnitzt, das unsere Mutter so besonders gemacht hat!«
    »Meinst du wirklich?« Zweifelnd sah er sie an.
    »Mein heiliges Ehrenwort! Mom ist immer stolz auf dich gewesen - und ich bin es auch!«, versicherte sie, und sie meinte jedes Wort so, wie sie es sagte.
    Am Abend saßen sie wieder mit Coffin und Timothy auf dem Ruinengrundstück und rösteten über einem offenen Feuer Kartoffeln und saftige Speckscheiben, die Coffin mit dem Hinweis spendiert hatte, dass es doch zumindest einen bescheidenen Leichenschmaus am Tag der Beerdigung ihres Vaters geben müsse. Auch Timothy hatte sich nicht lumpen lassen und zwei Flaschen Dünnbier gekauft, die sie sich kameradschaftlich teilten.
    Als die Dunkelheit hereinbrach, das Feuer heruntergebrannt war und es Zeit zum Aufbruch wurde, fragte Daniel mit gequälter Miene: »Müssen wir wieder in dieses entsetzliche Loch hinunter?«
    »Willst du vielleicht auf der Straße schlafen?«, fragte Becky zurück. Auch sie kostete es noch immer große Überwindung, sich zum Schlafen in die abscheuliche Kellerabsteige zu begeben und sich auf das schmutzige Segeltuch zu zwängen. Aber auf den Dächern der umliegenden Mietshäuser würde man Kellerratten nicht dulden. Und sich in den Dreck der Bürgersteige zu legen kam ihr nicht in den Sinn. Da musste man nämlich auf allerlei böse Überraschungen gefasst sein, etwa dass Hausbewohner hoch über einem einfach ihre Nachttöpfe auskippten.
    »Warum kommt ihr nicht mit uns in den Park?«, fragte Timothy. »Fast alle Zeitungsjungen schlafen im Sommer drüben im

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