Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
und steckte sie sich im Rücken zwischen Hemd und Hose.
»Ja, die bin ich«, antwortete Becky.
»Nicht sehr clever von deinem Bruder, Bleiverkleidungen von Schornsteinen zu reißen«, sagte Justin, um das gleich wieder mit ein paar Bibelsprüchen zu kommentieren: »Nun ja, wie heißt es doch so trefflich im Buch Hiob: Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen. Aber dein einfältiger Daniel hat wohl mehr an die Sprüche Salomos gedacht: Gestohlenes Wasser schmeckt süß. Und jetzt sitzt er für seine Dummheit auf der verfluchten Insel. Da wird sein ein Heulen und Zähneklappern !« Und während er ein Zitat nach dem anderen auf sie losließ, verzog er das brandfleckige Gesicht zu einem breiten Grinsen.
Becky war nicht sonderlich beschlagen, was Bibelkunde anging, aber ihre überaus gläubige Mutter hatte sich mit der Heiligen Schrift recht gut ausgekannt und ihnen abends oft daraus vorgelesen. Vieles hatte sich ihr eingeprägt. Und nun fiel ihr auf Justins Spott spontan die Antwort ein: »So ist es nun mal, oder wie es auch bei Hiob geschrieben steht: Ein Kampf ist des Menschen Leben auf Erden. Aber was reden wir über die Dummheit meines Bruders, Justin? Oder sollte ich besser mit Matthäus fragen: Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? «
Justin der Prophet machte ein verblüfftes Gesicht. Dann lachte er auf und sagte, an Coffin gewandt: »Nicht schlecht! Wirklich nicht schlecht, deine Kleine! Die Toren sprechen mit ihrem Herzen! «
Coffin machte sich nicht die Mühe, klarzustellen, dass Becky nicht sein Mädchen war, sondern fragte trocken: »Was meinst du, habt ihr jetzt genug fromme Sprüche ausgetauscht, oder soll das zu einem Wettbewerb werden, wer hier wen übertrifft? Den Sieg hast du doch jetzt schon in der Tasche.«
Timothy nickte. »Wir sollten zur Sache kommen, Justin. Kannst du nun etwas für Beckys Bruder tun oder nicht?«
»Lass die Sonne nicht untergehen über deinem Zorn!«, entgegnete Justin, wie aus der Pistole geschossen. »Aber gut, kommen wir zur Sache.« Er machte eine kurze Pause. »Ich bin die falsche Adresse, wenn ihr jemanden sucht, der das arme Schwein von der Insel holt...«
Becky sank das Herz.
»... aber weil ihr in Coffin einen Fürsprecher habt, dem ich schlecht einen Korb geben kann«, fuhr Justin fort, »bin ich bereit, euch mit jemandem zusammenzubringen, der so manches Unmögliche möglich machen kann.«
»Und wer ist dieser Jemand?«, fragte Timothy sofort.
»Billy the Butcher«, antwortete Justin. »Er hat das Sagen bei den Swamp Angels, wenn euch das was sagt. Das ist euer Mann.«
»Wie und wo können wir mit ihm reden?«, erkundigte sich Coffin.
»Ich bringe euch zu ihm.«
»Jetzt gleich?«, stieß Becky hervor.
Justin bedachte sie mit einem ironischen Blick. » Die Pforte zum Himmel ist eng, aber heute steht sie euch offen. Also kommt schon, bevor Billy the Butcher mit seiner Mannschaft zu anderen Geschäften aufbricht.« Damit stieß er sich vom Poller ab und marschierte los in Richtung Water Street.
»In was haben wir uns da bloß eingelassen!«, flüsterte Becky, die von Angst und heftigen Zweifeln befallen wurde und mit sich kämpfte, ob sie das Ganze nicht doch besser abblasen sollten.
»Sei unbesorgt!«, raunte Coffin beruhigend zurück und legte seine Hand kurz auf ihren Arm. »Mit Justin an unserer Seite haben wir nichts zu befürchten.«
Timothy neben ihr atmete tief durch, als hätte er da seine Zweifel, sagte jedoch nichts.
26
D IE Water Street, die parallel zum East River verlief, gehörte zum 4. Bezirk, der einst zu den vornehmen, fast aristokratischen Stadtvierteln von New York zählte. Hier standen einmal herrschaftliche Häuser und über die mit Kopfsteinen gepflasterten Straßen rollten elegante Equipagen mit livrierten Kutschern und Dienern auf dem rückwärtigen Trittbrett. Aber diese Glanzzeit lag schon einige Jahrzehnte zurück, und längst war das Viertel, insbesondere die verrufene Water Street, verkommen zu einer einzigen Ansammlung von Spelunken, Bordellen, Opiumhöhlen, Spielhöllen und anderen Etablissements der übelsten Sorte, gegen die sich die meisten Tavernen und Hurenhäuser von Five Points fast respektabel ausnahmen. Und viele der finsteren Gestalten, die sich auf dieser Straße tummelten, schienen einem jener Zehn-Cent-Heftromane entsprungen zu sein, die ihre Leser mit haarsträubenden Schauergeschichten über Piraten, Meuchelmörder und anderes
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