Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
sehnte, nach einem Zuhause - und nach einem Leben auf dem Land.
»Und du bist wirklich bereit, mit so einem Zug in den Westen zu fahren und dich von einer Familie, die du gar nicht kennst, aufnehmen zu lassen?«
Daniel nickte erneut und mit allem Nachdruck. »Was haben wir denn schon zu verlieren, Becky?«, hielt er ihr leise vor. »Bis auf Coffin und Timothy werde ich nichts vermissen. Gar nichts!«
Becky schwieg für einen langen Augenblick. Dann fasste sie einen Entschluss. »Wenn das so ist, gehen wir beide morgen zur Children’s Aid Society und fragen, ob sie auch für uns eine Familie finden können!«
Sein Gesicht leuchtete auf. »Wir werden es bestimmt nicht bereuen, Becky!«, rief er überglücklich und warf seine Arme um ihren Hals, um sie fest an sich zu drücken, während er seinen Tränen nun freien Lauf ließ.
32
D AS Gebäude an der Ecke der Lafayette Street, in dem sich seit kurzem das Hauptquartier der Children’s Aid Society befand, hatte in seiner Vergangenheit als das stadtbekannte Italian Opera House glanzvolle Zeiten gesehen. Aber die letzte Opernarie wie der letzte Applaus waren schon vor vielen Jahren verklungen. Und nach dem Umbau des Theaters in ein Bürogebäude erinnerte nur noch die stattliche, mittlerweile aber schon recht vernachlässigte Fassade daran, dass dieses Haus einmal ein viel besuchter Tempel der Opernkunst gewesen war.
Als Becky mit ihrem Bruder am späten Vormittag vor dem Clinton House stand, befielen sie heftige Zweifel, ob das mit der Reise in den Westen auch wirklich das Richtige für sie war. »Vielleicht sollten wir uns die Sache erst noch einmal gut überlegen, Daniel«, sagte sie.
»Was gibt es denn da noch zu überlegen?«, wollte er wissen, sichtlich beunruhigt von ihrem Zögern. »Du willst doch nur kneifen! Aber du hast mir gestern versprochen, dass wir es machen!«
»Ich will nicht kneifen!«, widersprach Becky. »Ich will nur...« Mitten im Satz brach sie ab, als eine gut gekleidete Frau mit einem etwa zehnjährigen Mädchen an ihrer linken und einem höchstens vierjährigen Mädchen an der rechten Hand um die Ecke kam. Die beiden Mädchen steckten in dreckigen, löchrigen Kleidern, die nur noch als Lumpen zu bezeichnen waren. Auch ihr verfilztes Haar und die um die Füße gebundenen Lappen, die Schuhe ersetzen sollten, verrieten sofort, dass es sich bei ihnen um Straßenkinder handelte.
Die Frau nickte Becky zu, als wollte sie ihr wortlos Mut zusprechen, bedachte sie und ihren Bruder mit einem Lächeln und schritt mit ihren beiden Schützlingen die Stufen zum Eingangsportal hoch.
»Niemand hat hier von Kneifen geredet!«, setzte Becky erneut an. »Ich will nur nicht, dass wir die Sache überstürzen und uns in etwas einlassen, was wir nachher bereuen!«
Daniel lachte freudlos auf. »Dann erzähl mir doch mal, was wir alles bereuen könnten! Vielleicht dass wir bei jedem noch so miesen Wetter auf der Straße ausharren müssen, du als Zeitungsmädchen und ich als Schuhputzer? Wird dir das fehlen?«
»Daniel, ich...«
Er ließ sie nicht ausreden, sondern fuhr unbeirrt fort: »Ich weiß, was du bestimmt bereust! Wenn wir irgendwo bei einer Familie in einem richtigen Bett unter einem Dach liegen, wirst du dich mit unendlicher Reue danach zurücksehnen, dich im Sommer nachts im Central Park von den verdammten Stechmücken aussaugen zu lassen. Und im Winter werden dir die harten Bänke der Fulton-Fähre fehlen, weil du morgens beim Aufstehen auf einmal keine schmerzenden Knochen mehr hast! Ich wette, das und all die anderen wunderbaren Dinge, die unser Leben hier ausmachen, werden dir ganz bitterlich fehlen. Wir haben ja auch so viel aufzugeben und aufs Spiel zu setzen!«
Hätte ihr Bruder diesen Wortschwall mit vorwurfsvollem, höhnischem Tonfall vorgebracht, Becky hätte ihm darauf womöglich eine harsche, zurechtweisende Antwort erteilt. Aber Daniels Stimme war mit jedem Satz immer schwermütiger und kläglicher geworden. Am Ende hatten aus seinen Worten nur noch erbarmungswürdige Erschöpfung und Traurigkeit geklungen.
Es versetzte ihr einen tiefen, schmerzhaften Stich, ihn so verzagt und ohne jede Hoffnung zu sehen, wenn sie in New York blieben und an ihrem jetzigen armseligen Leben festhielten. Sie schämte sich plötzlich für ihren Stolz, sich aus eigener Kraft durchschlagen zu wollen, und sie hatte das niederdrückende Gefühl, als ältere Schwester versagt zu haben, hätte sie doch viel früher erkennen müssen, dass ihr Bruder viel mehr
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