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Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!

Titel: Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rainer M. Schroeder
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keine andere Wahl gehabt hatte, um ihren kleinen Bruder zu retten, wollte ihr Gewissen als Rechtfertigung nicht gelten lassen.
    Und dass sie mit keinem darüber sprechen konnte noch wollte, machte es nicht eben leichter, mit diesen Schuldgefühlen zu leben. Fast täglich suchte sie eine Kirche auf, wenn sie ihre Zeitungen verkauft hatte, und betete um Vergebung. Und jedes Mal warf sie einen Teil ihres Verdienstes in den Opferstock für die Armen, fest entschlossen, auf diese Weise die fünfzig Dollar bis auf den letzten Cent zurückzuzahlen, wenn auch nicht an Dougherty persönlich. Aber viel Trost brachte ihr diese Sühne nicht. Denn wie sie es auch drehen und wenden mochte, es führte einfach kein Weg an der Tatsache vorbei, dass sie - wenn auch aus Verzweiflung! - ein Verbrechen begangen hatte. Damit war sie keinen Deut besser, wie sie sich sagte, als all die vielen Verbrecher, die in Five Points, auf der Water Street oder sonst wo ihr Unwesen trieben. Das Bewusstsein, so tief gesunken zu sein, legte sich wie eine düstere Wolke auf ihr Gemüt.
    Nicht einmal Timothy, der kein Hehl daraus machte, welche besonderen Gefühle er für sie hegte, vermochte sie allzu lange aufzuheitern. Sie war ihm für so vieles, was er für sie getan hatte, unendlich dankbar und empfand auch große Zuneigung für ihn, doch seine romantischen Gefühle vermochte sie nicht zu erwidern. Und was sie an Schuld niederdrückte, damit musste sie sowieso allein fertig werden.
    Auch die Ungewissheit, ob Dougherty oder irgendein anderer sie nicht vielleicht doch erkannt hatte und die Polizei womöglich nach ihr suchte, setzte ihr zu. Sie mied Five Points, fühlte sich aber auch in den anderen Vierteln nicht mehr so sicher wie vor dem Überfall.
    Sorgen bereitete ihr auch Daniel. Denn dass man seinen Ausbruch nicht untätig hinnehmen würde, sondern ihn zur Fahndung ausgeschrieben hatte, war so sicher wie das Amen in der Kirche. Aber wie sollten sie sich bloß vor dem Zufall einer Entdeckung schützen, da sie doch dazu verdammt waren, tagtäglich durch die Straßen zu ziehen?
    Überhaupt waren an Daniel die Wochen, die er als Sträfling auf Blackwell’s Island zugebracht hatte, alles andere als spurlos vorbeigegangen. Er wurde noch in sich gekehrter, und häufiger noch als zuvor wollte er nachts auf der Fähre Geschichten von ihr hören, wie es damals gewesen war, als sie im Rheinischen auf eigenem Land gelebt hatten und eine richtige Familie gewesen waren. Dass sie ihm längst nichts Neues mehr zu erzählen wusste, machte ihm nichts aus. Er wollte die alten Geschichten immer wieder hören, als wäre dies das einzige Feuer, das ihn im Innern zu wärmen und die stille Trauer, unter der er litt, wenigstens für kurze Zeit zu vertreiben vermochte.
    Mitte Februar sprach er sie zum ersten Mal auf einen der Artikel an, die immer wieder in der Zeitung standen und von Hilfsorganisationen berichteten, die heimatlose Kinder von den Straßen holten und für sie Familien irgendwo im Westen suchten.
    »Es muss schön sein, wieder eine Familie zu haben und zu jemandem zu gehören«, sagte er mit sehnsuchtsvoller Stimme.
    Becky warf nur einen kurzen Blick auf die verknitterte Zeitung, die ein Passagier der Fähre auf ihrer Bank zurückgelassen hatte. Daniels Sehnsüchte waren ihr nicht fremd, befielen sie manchmal doch ähnliche Gedanken, die sie allerdings rasch wieder verdrängte. »Du gehörst zu mir und ich zu dir, Daniel.«
    Er seufzte. »Ja, schon... aber das ist nicht dasselbe wie eine richtige Familie.«
    »Ich weiß, ich wünschte auch, wir wären noch alle zusammen, aber wir müssen uns nun mal damit abfinden, dass es nicht so ist und wir auf uns allein gestellt sind.«
    Er schwieg eine Weile, während die Fulton-Fähre bei heftigem Schneeregen durch den Hudson River nach Jersey City dampfte. »Aber hast du denn schon mal darüber nachgedacht, was aus uns werden soll?«, fragte er dann zaghaft, als fürchtete er, dafür von ihr gerügt zu werden.
    »Wie meinst du das?«
    Er zuckte verlegen die Achseln. »Na, so wie es ist, werden wir es hier doch nie zu etwas bringen«, sagte er, um schnell hinzuzufügen: »Ich weiß, wie sehr du dich abrackerst, Becky! Aber mit den paar Shilling, die ich in der Woche als Schuhputzer verdiene, und deinem Verdienst werden wir doch nie auf einen grünen Zweig kommen. Und immer auf der Straße zu leben, im Sommer im Central Park und im Winter auf der Bank einer Fähre zu schlafen...« Er führte den Satz nicht zu Ende und

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