Becky Brown - Versprich, Nach Mir Zu Suchen!
machte eine mutlose Geste.
»Das wird nicht immer so sein! Irgendwann werden wir genug Geld zusammenhaben, um uns ein Zimmer leisten zu können«, versicherte Becky, die plötzlich einen Kloß in der Kehle spürte, hatte sie sich diese Frage in letzter Zeit doch auch schon oft genug gestellt, ohne jedoch eine Antwort zu finden, aus der sie Zuversicht hätte gewinnen können.
»Glaubst du das wirklich?« Zweifelnd sah Daniel sie an.
»Natürlich glaube ich das!«, sagte Becky, obwohl es nicht der Wahrheit entsprach. Denn allenfalls konnte sie hoffen, dass dieser Wunschtraum einmal in Erfüllung ging. Aber bei dem, was sie verdienten und was sie jeden Tag in den Opferstock steckte, lag jener Tag noch in sehr, sehr weiter Ferne.
In dieser Nacht gab Daniel sich mit ihrer Beteuerung zufrieden. Aber er kam die nächsten Wochen immer wieder darauf zurück. Manchmal nur mit einem Satz, einer Andeutung, an anderen Tagen mit irgendwelchen Geschichten, die jedoch immer in dieselbe Richtung wiesen und die unausgesprochene Aufforderung enthielten: »Lass uns eine Familie suchen, die uns aufnimmt, Becky!«
Am letzten Märztag machte er sie erneut auf einen Zeitungsartikel aufmerksam. Darin wurde berichtet, dass offizielle Stellen die Zahl der Straßenkinder, die sich auf eigene Faust in New York durchschlugen, auf zwischen zehntausend und dreißigtausend schätzten. Und die Leser wurden aufgefordert, die lobenswerten Anstrengungen der Kinderhilfsorganisationen mit noch mehr Spenden zu unterstützen, damit möglichst viele Kinder von den Straßen der Stadt kamen und in neue Familien vermittelt werden konnten. Dabei wurde besonders die Arbeit eines gewissen Reverend Charles Loring Brace genannt, der die Children’s Aid Society leitete und der dem Bericht zufolge schon mehrere tausend Straßenkinder von ihrem täglichen Elend erlöst und mit orphan trains, Waisenzügen, zu den Siedlern im Fernen Westen geschickt hatte.
»Die meisten kommen zu Familien, die dort Farmen haben, Becky«, sagte er mit glänzenden Augen. »Man muss auch nichts Besonderes können! Es reicht, wenn man willens ist zu arbeiten wie jeder andere in der Familie. Und wenn man die Leute mag, die einen bei sich aufnehmen, kann man sich irgendwann von ihnen adoptieren lassen. Dann hat man wieder eine richtige Familie!«
Becky erinnerte sich daran, dass die Children’s Aid Society diejenige Organisation war, die auch die Unterkunft für Zeitungsjungen im fünften Stock der Sun betrieb. »Diese Gesellschaft wird von Methodisten geführt«, sagte sie, wohl wissend, dass sie mit dieser Antwort nicht den Kern der Sache ansprach, um die es ihrem Bruder ging. »Die haben es nicht mit uns Katholiken!«
»Aber nirgendwo steht, dass sie nur Methodistenkinder nach Westen schicken!«, hielt er ihr auch sofort vor. »Das Angebot gilt für alle, die keine Eltern und kein Zuhause haben!«
»Und woher willst du das wissen?«
Er wich ihrem Blick aus und zögerte kurz. »Weil... weil ich vor dem Clinton House mit einigen Jungen gesprochen habe, die vor zwei Wochen mit einem dieser Waisenzüge nach Westen aufgebrochen sind. Es waren irische Jungen, Katholiken wie wir. Und sie haben gesagt, dass zu ihrer Gruppe noch andere Katholiken gehören.«
»Clinton House?«
»Ja, das Haus an der Ecke Lafayette Street und Astor Place, da hat diese Children’s Aid Society ihre Büros und Unterkünfte für die Kinder, die von ihnen vermittelt und auf die Reise geschickt werden.«
»Du bist schon vor Wochen bei diesen Leuten gewesen und hast dich erkundigt?« Beckys Verblüffung hätte kaum größer sein können.
Er errötete, als hätte sie ihn bei etwas ertappt, dessen er sich schämen musste. »Ins Haus hingetraut habe ich mich nicht!«, sagte er hastig. »Aber mit einigen der Jungen habe ich schon gesprochen. Sie konnten es auch nicht erwarten, endlich von hier wegzukommen und wieder eine richtige Familie zu haben.«
»Auch?«, fragte sie leise. »Sehnst du dich so sehr danach, von hier wegzukommen und von einer Familie aufgenommen zu werden, Daniel?«
Er biss sich auf die Lippen und nickte heftig.
Becky sah die Tränen in seinen Augen, und ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als ihr mit einem Schlag bewusst wurde, was sie bisher mit aller Kraft und eigentlich wider besseres Wissen verdrängt hatte. Nämlich wie sehr er unter ihrem elenden Leben als verachtete Dead End Kids litt, das sie seit dem Tod der Mutter führten, und wie sehr er sich nach irgendeiner Familie
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