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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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Schwäche zeigen! Er würde ihn kriegen, diesen Übele, wie er breitbeinig dastand und höhnisch feixte. Am liebsten hätte er ihn damals geschlagen, dieses Grinsen aus dem Gesicht geprügelt, aber er hatte sich zusammengerissen. Noch war die Zeit nicht gekommen! Und so warteten sie, beobachteten sich, belauerten sich in ihrem ganz privaten Stellungskrieg.
    Friedrich tat noch einen letzten tiefen Zug und warf die Zigarette in die Enz, die brackig und zäh an ihm vorbeifloss. Er starrte misstrauisch in das stinkende Wasser.
    Kein Wunder, dass die Leute alle krank werden, dachte er. Nichts zu essen und dann die Hitze und das dreckige Wasser ... Emma klagte auch schon seit ein paar Tagen über Glieder- und Kopfschmerzen. Deshalb verkniff er sich jetzt das Mittagsvesper, hatte es auch heute Morgen wieder über den Tisch hinübergeschoben zur Mutter: »Heb’s für Emma auf.«
    »Aber du musst doch essen«, hatte sie wie die Tage zuvor aufbegehrt. »Du musst essen, Fritz. Du arbeitest so hart, Junge. Wenn du krank wirst ...«
    »Lass nur«, hatte er ihr entgegnet und ihr sanft über den Kopf gestrichen. Diesen Kopf mit dem immer noch akkurat gescheitelten Haar, das aber so dünn geworden war und in dem jetzt so viele graue Strähnen schimmerten. Wie hatte Vater dieses Haar bewundert und geliebt!
    »Lass nur, mir passiert schon nichts. Mach dir keine Sorgen, Mutter!« Sie hatte ihn forschend angesehen und sich dann abgewandt. Was sie wohl gedacht hatte? Vielleicht dass es die Wut und der Hass waren, die ihn so stark und unverwundbar machten. Er wusste, dass dies Mutters Kummer war. Sie hatte schon mehrmals mit ihm darüber zu sprechen versucht, aber er hatte sie jedes Mal zurückgewiesen, hatte so getan, als verstehe er sie nicht. Er wusste, was er wollte, wusste es genau! In der Tasche seiner Arbeitshose aus grobem blauem Drillichstoff raschelten leise einige sorgsam zusammengefaltete Zettel. Sie waren ein weiterer Schritt auf dem Weg nach oben, ein kleiner nur, aber doch auch wichtiger Schritt. Mit ihnen würde er Übele erledigen, ein für alle Mal! Er musste es nur geschickt anstellen.
    Friedrich riss sich los von dem Anblick des brackigen Wassers, das träge über die groben Kiesel floss. Drüben, auf dem Stapelplatz, lagen die Arbeiter im Schatten. Noch war Mittagspause, aber die meisten hatten ihr karges Essen schon verzehrt und dösten jetzt stumm vor sich hin. Kaputt und ausgelaugt waren sie, wie die meisten Menschen im vierten Jahr des Krieges, der auch auf Grunbach seine Schatten geworfen hatte. Dunkle Schattenfinger, Krallen des Todes und des Schreckens hatten sich in alle Winkel gegraben, hatten in so viele Häuser des Dorfes gegriffen, wo man einen Toten beklagte oder wo die Verwundeten, die Blinden, die Amputierten hockten, dumpf und hoffnungslos, für immer gezeichnet. Und auch die äußerlich Unversehrten hockten dort. Diejenigen, denen das Grauen die Seele zerstört hatte, die nicht mehr sprechen konnten und wie die Tentakel des großen Schattens durch die Straßen huschten. Und jetzt starben noch die Frauen und Kinder an der Grippe, ausgezehrt vom vielen Hunger! Bis zuletzt hatte sich Friedrich an die Hoffnung geklammert, der Krieg sei zu gewinnen, hatte auf die große Frühjahrsoffensive gesetzt, aber Johannes’ Briefe und mehr noch Dederers düstere Berichte hatten ihn eines Besseren belehrt. Er konnte sich nicht vorstellen, was das bedeuten könnte, den Krieg zu verlieren! Zu verlieren gab es doch nichts mehr, nicht einmal für die, die vorher etwas besessen hatten. Und einer wie der Dederer oder der Zinser oder gar der Tournier, die hatten bislang im Krieg gewonnen, warum sollten sie jetzt plötzlich etwas verlieren? Von seinen Besuchen in Karlsruhe oder Straßburg brachte Dederer immer große Pakete heim – guten Schinken, französischen Käse, manchmal Fleisch, Früchte, Schokolade, lauter Dinge, an die sich Friedrich fast nicht mehr erinnern konnte und deren Namen er manchmal aussprach, um im vertrauten Klang die Erinnerungen zu beschwören, wie sie geschmeckt und gerochen hatten.
    Lisbeth hatte ein paarmal versucht, ihm etwas zuzustecken, ein Stück Weißbrot, Butter, eine geräucherte Wurst, aber er hatte jedes Mal entschieden abgelehnt. Vor seinem geistigen Auge war eine Schürze voll mit Kartoffeln aufgetaucht, die Kartoffeln der Frau Mössinger, das erste Almosen, das ihm damals angetragen wurde. Nie wieder, hatte er sich damals geschworen, nie wieder sollte man ihn wie einen Bettler

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