Beerensommer
Ortsnamen wie »Bettenkurt« aus, aber Johannes wusste, was gemeint war. Die Soldaten kannten diese Orte mit den unaussprechlichen Namen, man hörte von ihnen, flüsterte sie sich hinter vorgehaltener Hand zu, zusammen mit den Zahlen, den Zahlen der Toten.
»Und wie ist es bei dir passiert?«, fragte Johannes leise. Vielleicht konnte Paule nicht darüber reden, vielleicht war seine Frage taktlos. Aber Paule schien nichts dabei zu finden.
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen. Tagelang hatte es geregnet. Bis zum Arsch standen wir im Wasser. Meine Beine habe ich gar nicht mehr gespürt. Und gerade als es hieß: ›Attacke, raus aus den Gräben!‹, ging’s los. MG-Salven und dann Handgranaten. Ich hab rein gar nichts mehr gesehen – Dreck, Steine, Bäume, alles flog durch die Luft, und dann die Leute ...« Er stockte für einen Moment und fuhr dann fort, seine Stimme klang rauer, als sei ihm etwas in die Kehle geraten. »Arme, Beine, Köpfe, neben mir fielen die Kameraden, in Stücke gerissen, trotzdem bin ich weiter, immer weiter und plötzlich ...«, Paule konnte für einen Moment nicht weiterreden, »und plötzlich zischt etwas an mir vorbei, Schwein gehabt, denk ich noch, da seh ich plötzlich neben mir einen Kameraden umfallen, der Kopf war ab. Scheiße, denk ich noch, Scheiße, und im gleichen Moment spür ich was im Gesicht, höllisch weh hat es getan. Ich kapier erst gar nichts, kann auf dem linken Auge nichts mehr sehen. Scheiße, denk ich noch mal und fall auf die Knie, so höllisch weh hat es getan. Mit der Hand greif ich nach oben, was tut denn da so weh, denk ich, was ist denn da? Ja, und da war nichts, gar nichts. Das linke Auge einfach weg! Und neben mir liegt der Kopf von Max Kowalski, so hat er geheißen. War ein guter Kumpel, ein Bergmann aus dem Ruhrpott. Drei kleine Kinder und das ganze Leben nur Maloche, und jetzt verreckt, in Stücke gerissen. Das muss ich seiner Frau schreiben, die arme Frau, habe ich noch gedacht. Komisch, was man in einem solchen Moment denkt, und dann bin ich gekrochen, stell dir vor, ich konnte noch kriechen mit meinem halben Gesicht. Zurück bin ich gekrochen über die Kadaver, über die Köpfe, die Hände, die Beine, über Rücken bin ich gekrochen, über die Haut der Toten, die aufplatzte, mitten durch die Ratten, die schon anfingen an den Leichen zu nagen. Bloß nicht von dem Viehzeug angefressen werden, hab ich noch gedacht und bin weitergekrochen über die Berge von Toten.«
22
Friedrich kniff die Augen zusammen, die Sonne stand hoch und brannte herunter, grell und gleißend brannte sie herunter auf das Sägewerk, das jetzt ganz still und wie ausgestorben dalag. Höllisch aufpassen musste man wegen der Brandgefahr und Friedrich drehte sich zum Anzünden der Zigarette sogar weg, obwohl das eigentlich Quatsch war. Er warf das Streichholz in die »Wanne«, wie die Arbeiter den direkt vor der Sägemühle liegenden kleinen Stausee nannten, der mit einem Wehr von der Enz abgetrennt wurde.
Friedrich hatte zu rauchen angefangen, seit ihm Louis Dederer immer wieder ein paar Schachteln zusteckte. Er brachte sie mit von seinen Besuchen in Baden-Baden, Freiburg oder anderswo, wo er mit den Holzhändlern verhandelte. Die Armee brauchte immer noch viel Holz, auch im vierten Jahr des Krieges, obwohl der nicht mehr zu gewinnen war, wie der alte Dederer meinte, aller Siegespropaganda zum Trotz.
»Siege, immer wieder Siege, aber den Krieg gewinnen wir nicht«, sagte er mürrisch, »und die Amis kommen, jeden Monat weit über zweihunderttausend Mann, alle gut im Saft, und unsere verrecken in den Gräben und jetzt auch noch durch die verfluchte Grippe!«
Aber nicht nur an der Front, auch im Heimatland starben die Leute wie die Fliegen an dieser Grippe, schwach und unterernährt, wie sie waren.
Friedrich nahm einen tiefen Zug und betrachtete nachdenklich die Zigarette. Das war einer der Vorteile, die das Rauchen mit sich brachten. Man spürte den Hunger nicht mehr so stark. Außerdem verlieh ihm das Zigarettenrauchen etwas Weltmännisches, Vornehmes, dachte er. Es war viel besser als Übeles stinkende Pfeife.
Überhaupt – Übele! Seit dem Vorfall im Frühjahr belauerten sie sich, beobachteten misstrauisch jeden Schritt des anderen. »Bist wohl gefallen?«, hatte Übele am nächsten Morgen grinsend zu Friedrich gesagt.
»Aber nicht so, wie Sie wollten!«, hatte Friedrich zurückgeblafft und sich im selben Augenblick auch schon geärgert. Jetzt nur keinen Moment der
Weitere Kostenlose Bücher