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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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Gar nichts. Und die Amis kommen! Ich sag dir eines, Jungchen, unsere Leute können nicht mehr und sie wollen auch nicht mehr!«
    Johannes öffnete wieder den Mund, er wollte fragen, so viel fragen. Wie lange lag er denn schon hier? Die große Offensive war also schon vorbei, was war mit den Kameraden? Plötzlich sah er nur noch tiefrote Kreisel, die sich drehten, immer schneller drehten und dann fiel er wieder zurück in die bodenlose Dunkelheit.
     
    Als er wieder aufwachte, fiel ihm das Licht gleißend hell in die Augen. Die Geräusche und Gerüche waren wieder da, aber diesmal klarer und intensiver. Er versuchte sich zu erinnern und sofort fiel ihm Paule wieder ein, Paule mit dem halben Gesicht. Ganz vorsichtig richtete er sich auf und es gelang ihm tatsächlich, auf die Unterarme gestützt, den Oberkörper anzuheben. Einen Moment lang glaubte er, noch immer in einem Albtraum gefangen zu sein, aber nein, es war alles wahr, was sich ihm hier darbot, war nur eine logische und konsequente Fortsetzung der Hölle, durch die er schon gegangen war.
    Eine lange Reihe mit Betten zog sich an den Wänden entlang, Betten, die getränkt waren mit Blut, Pisse und Kot. Darauf lagen stöhnende, röchelnde Männer, Männer, die sich im Todeskampf wanden. Einige lagen auch ganz ruhig da, schauten mit weit aufgerissenen Augen empor zur Decke, nur die Hände zuckten unablässig über den grauen Wolldecken. In den Mittelgängen hatte man Tragen abgestellt, auch die waren blutig und durchnässt.
    Wahrscheinlich reichten die Betten nicht aus oder die Männer, die darauf lagen, waren gerade erst hergebracht worden. Dazwischen huschten Schwestern mit gestärkten weißen Hauben hin und her. Sie arbeiteten flink und sicher, aber an ihren nach vorne gebeugten Schultern und den grauen Gesichtern konnte man eine stumpfe Müdigkeit erkennen, die nicht nur von der Mühe der Arbeit kündete. Johannes hörte heiseres Flüstern und auch helle Schreie, entsetztes Gurgeln und drängendes Rufen; nach der Schwester oder nach der Mutter, es fielen Namen von Frauen, den Geliebten oder man schrie einfach nur um Hilfe.
    Johannes ließ sich wieder zurückfallen und wühlte sich tief in seine nach Karbol stinkende Decke. Er wollte nichts mehr sehen und nichts mehr hören. Plötzlich spürte er wieder einen Druck auf seiner Hand und die schon vertraute Stimme sagte: »Auf, mein Jungchen. Ich hab dir was Feines mitgebracht. Musst doch wieder auf die Beine kommen.« Paule half ihm, sich wieder aufzurichten, und führte dann eine Blechtasse an Johannes’ Mund, eine zerbeulte und zerkratzte Tasse, aber sie barg etwas unendlich Kostbares: Es war Milch, richtige süße, rahmige Milch, und Johannes fürchtete für einen Moment, er könne gar nicht trinken, so sehr übermannte ihn die Gier, dass er den Mund voll Wasser hatte. Er sabberte, als er den Mund öffnete, dann aber trank er schmatzend und die kostbare Milch lief sogar an den Mundwinkeln herunter, weil er zu viel auf einmal wollte.
    »Langsam, langsam, Jungchen«, sagte Paule, »pass auf, hab noch etwas anderes für dich.« Darauf zog er einen Kanten Brot aus der Tasche, es war wirklich Brot, hart und ausgetrocknet zwar, aber es war richtiges Brot! Johannes riss es ihm aus der Hand und biss hinein. Mühsam kaute er, speichelte die trockene Masse ein, trank mit Paules Hilfe etwas Milch dazu und spürte den wunderbar süßlichen Geschmack auf der Zunge. Er biss, kaute, würgte, Krümel fielen hinunter, er schmatzte und schlang. Ein bisschen schämte er sich seiner Gier, aber letztlich war es egal, denn er spürte mit jedem mühsam hinuntergeschluckten Bissen, wie neue Kraft in die Fasern seines Körpers flutete.
    Plötzlich musste er an die Ahne denken, fast schuldbewusst, weil er sich jetzt erst an sie erinnerte. Aber er musste insgeheim lächeln dabei, weil er nun genauso mühselig wie sie das Essen zerkaute und Krumen spuckte. Bestimmt machte sie sich schon große Sorgen, und Friedrich und die anderen auch. Er hatte so lange keinen Brief mehr geschrieben. Aber wie lange? Wie lange lag er hier? Er hatte keine Erinnerungen mehr, kein Gefühl für die Zeit. Auf seine entsprechende Frage antwortete Paule: »Schon drei Wochen liegste hier. Anfang April haben sie dich gebracht und jetzt haben wir bald Mai. Mai, der Wonnemonat Mai!« Er lachte meckernd. Es war ein böses Lachen. »Mich hat’s gleich im Januar erwischt, in so einem Kaff bei Bethancourt. Komische Namen haben die Franzmänner.« Er sprach den

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