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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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hier im Lazarett in Liart in Frankreich«, sagte diese Stimme. »Nicken Sie mit dem Kopf oder versuchen Sie die Augen zu öffnen, wenn Sie mich verstehen.«
    Die Augen öffnen ... Nein!, wollte er schreien, ich kann meine Augen nicht öffnen, ich habe Angst, dass die Dunkelheit bleibt! Aber immerhin bekam er ein heiseres Krächzen heraus und die anderen über ihm schienen zufrieden zu sein, denn die Frauenstimme klang plötzlich nicht mehr so müde und gleichgültig. »Er ist bei Bewusstsein, er hat uns verstanden. Wenn nichts mehr dazwischenkommt, kann er es schaffen. Seien Sie so gut und geben Sie ihm etwas zu trinken. Ich sage dem Herrn Stabsarzt Bescheid, wenn er Zeit hat, sieht er nach ihm.«
    Trinken, das war gut. Mit einem Mal bemerkte er, dass er Durst hatte! Sein Mund schien eine riesige Höhle zu sein, ausgestopft mit Watte. Der ganze Körper schien von dieser Watte aufgesogen zu werden. Sehnsüchtig lauschte er. Aber die andere Stimme sagte nichts mehr, sie schien verschwunden zu sein. Johannes wollte nach Wasser schreien, aber die Zunge gehorchte ihm nicht. Auf einmal spürte er etwas Hartes an seinem Mund. Es schlug gegen die Lippen, zwängte sich durch und dann spürte er es nass über Mund und Wangen laufen und die Nässe drang in diese riesige Höhle ein und füllte sie aus. Unwillkürlich schluckte er und es funktionierte tatsächlich, er konnte schlucken, und er spürte förmlich, wie das Wasser in den Körper rann, in diesen Körper, den er plötzlich wieder fühlte.
    »Sachte, Jungchen«, sagte die Stimme »nicht zu viel auf einmal.« Das Harte, der Becher, wurde mit sanfter Gewalt weggenommen, obwohl er versuchte sich an ihm festzubeißen.
    »Und jetzt schlaf wieder. Hast viel Blut verloren. Keiner hat mehr viel auf dich gegeben. Aber der gute alte Paule, der ich bin, hat’s nicht geglaubt. Bist zwar ein schmales Hemd, aber ein ganz Zäher, das habe ich gleich gemerkt!«
    Blut verloren ... Also doch nicht das Gas. Johannes öffnete den Mund und tatsächlich, es gelang ihm, etwas zu sagen. Mit unendlicher Mühe formte er Worte, richtige verständliche Worte: »Was habe ich denn?«
    Zur Bestätigung, dass man ihn verstanden hatte, drückte Paule kräftig seine rechte Hand. »Hast ein paar Schüsse in die Schulter gekriegt. Dicht am Herzen vorbei. Schwein gehabt, Jungchen. Bist dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen!«
    Erleichterung flutete durch Johannes’ Körper, der Stück für Stück wieder zu ihm zu gehören schien. Jetzt konnte er endlich die Augen öffnen. Die Lider zu heben, kostete ihn unendliche Anstrengung, aber es gelang ihm und er konnte endlich in das Gesicht der Stimme blicken, die so freundlich zu ihm gesprochen hatte. Gesicht? Aber das war doch gar kein Gesicht. Johannes wollte sich abwenden, weg von dieser geisterhaften Fratze, das war doch gar kein Mensch, das war ein Gespenst! Aber er konnte kein Glied rühren, sein Körper, den er wieder spürte, gehorchte ihm noch nicht.
    Dieses Wesen da über ihm schien genau zu verstehen, was in ihm vorging. Wieder drückte es ihm begütigend die Hand, dann sagte die Stimme betont gleichgültig: »Brauchst nicht zu erschrecken, Jungchen. Einen Schönheitspreis gewinne ich nicht mehr, das weiß ich wohl. Die Franzmänner haben mir das halbe Gesicht weggepustet, hab einen Teil einer hübschen kleinen Granate abbekommen und die linke Seite ist weg. Mitsamt dem Auge. Einfach so. Jetzt kann ich auf die Straße gehen und die Kinder erschrecken.«
    Die Stimme mühte sich lustig zu klingen, aber Johannes hörte den Unterton, hörte die unendliche Bitterkeit. Er zwang sich, dem Anblick dieses Gesichts standzuhalten. Der arme Mann! Tiefes Mitleid erfüllte ihn. Er wollte ihm so gerne etwas sagen, brachte aber nur ein heiseres Krächzen hervor, das man mit einiger Fantasie als ein »Es tut mir sehr leid« interpretieren konnte. Der Mann mit dem halben Gesicht schien das misszuverstehen. »Keine Sorge, Jungchen. An dir ist noch alles dran! Wirst schon wieder. Sei froh, dass für dich der verdammte Krieg gelaufen ist, denn lange geht’s nicht mehr, das kannst du mir glauben.« Die letzten Worte wurden zischend dicht an Johannes Ohr gesprochen, der Mann namens Paule hatte sich heruntergebeugt und sah sich vorsichtig um.
    »Man darf es bloß nicht laut sagen, aber jeder weiß es. Scheiß was auf die Frühjahrsoffensive, scheiß was auf ›Michael‹. Eine halbe Million Männer sind verreckt, hüben wie drüben, und was hat’s gebracht?

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