Beerensommer
Instinktiv trat er einen Schritt näher an Friedrich heran. Der aber schien ganz Herr der Lage zu sein. Es war nur ein Moment der Schwäche gewesen, und gerade mal Johannes hatte ihn bemerkt. Friedrich bedankte sich bei den Männern, bat dann einen, gleich am Rathaus vorbeizulaufen und den Gendarmen zu benachrichtigen. Den Karren werde man später zurückbringen. Die Männer nickten, setzten ihre Mützen wieder auf und verschwanden Richtung Rathaus. Die Sonne stand schon ungewöhnlich hoch am Himmel, trotz der frühen Morgenstunde drückte die Hitze bereits in die Straßen und Gassen.
»Wir müssen ihn hineinschaffen«, flüsterte Johannes und trat mit Friedrich neben den Karren. In den ausgelöschten Zügen war nur noch wenig vom alten Mühlbeck zu erkennen. So viele Tote habe ich schon gesehen, aber man wird nicht immun gegen den Tod, dachte Johannes. Immerhin hat der da mich mein bisheriges Leben begleitet, auch wenn er ein verkommener Kerl war – erst der Sohn, jetzt der Vater, arme Frau Mühlbeck, arme Guste. Aber wahrscheinlich würden alle wieder sagen, sie sollten froh sein, zwei Tunichtgute weniger auf der Welt, was machte das schon, wenn so viele brave Männer im Krieg sterben mussten. Und trotzdem, dachte Johannes. Seine Augen suchten die des Freundes. Friedrich starrte grüblerisch auf den Packen Lumpen, der einmal Ludwig Mühlbeck der Ältere gewesen war.
Und plötzlich erkannte Johannes ganz hellsichtig, was im Freund vorging. Friedrich dachte genauso wie die anderen! Es war nicht schade um solche wie die Mühlbecks. Solche Leute verachtete er. Deshalb war es besonders schlimm, dass der Alte auf dieselbe Weise ums Leben gekommen war wie sein Vater. Daran hatte er zu kauen. Als ob das noch eine zusätzliche Herabwürdigung seines Vaters sei!
Johannes und Friedrich waren so in ihre Überlegungen versunken, dass sie gar nicht gehört hatten, dass Guste gekommen war, Guste im grauen, verwaschenen Hemd. Sie hatte ihre Hand auf die linke Brust gepresst. Instinktiv wollten beide auf sie zugehen, aber sie wehrte ab. Langsam, ganz langsam kam sie näher, betrachtete stumm das Gesicht ihres Vaters und sah dann Johannes und Friedrich an.
»Jetzt ist er tot«, sagte sie leise. In ihrer Stimme schwang Verwunderung mit. So einfach war das. »Jetzt ist er tot.«
Plötzlich kam es Johannes so vor, als sei mit dem Tod der beiden Mühlbecks etwas unwiderruflich vorbei, als bilde ausgerechnet das jähe Ende dieser beiden, deren Namen bald vergessen sein würden, eine Zäsur in ihrer aller Leben.
Etwas war zu Ende! Bald musste der Krieg aufhören und dann kam die Revolution, wie Paule gesagt hatte, kam von Berlin und griff in andere Städte über und schwappte auch nach Grunbach. Machte Schluss mit der Ungerechtigkeit, dem Hunger und der Not. Machte auch Schluss mit den Kriegen. Es würde keine mehr geben, hatte Paule gesagt und Leute wie Rosa würden dann das Land regieren.
»Aus einem Teig gebacken ...« Johannes blickte noch einmal auf das Gesicht des alten Mühlbeck, das immer mehr zu schrumpfen schien. Es würde etwas Neues geben und es würde besser werden!
Vorsichtig hob er mit Friedrich zusammen den Leichnam vom Karren und trug ihn hinüber in die Stube der Mühlbecks, um ihn zu waschen und für den letzten Gang vorzubereiten.
Der Tag, an dem der alte Mühlbeck zu Grabe getragen wurde, begann verhangen und mit feinem Nieselregen. Friedrich, der sich am Vormittag freigenommen hatte, um ihm die letzte Ehre zu erweisen, bemerkte lakonisch zu Johannes, das sei nun wirklich zu viel der Ehre für den Alten, dass sich die Natur so trübe und traurig präsentiere. Im Nachhinein sollte sich aber herausstellen, dass das Wetter für die Grunbacher an diesem Tag von großer Bedeutung sein würde und dass sich an diesem Tage etwas ereignen würde, was dem alten Mühlbeck sicher geschmeichelt hätte, denn solch ein furioser Abgang wäre ganz nach seinem Geschmack gewesen.
Die Trauergemeinde, ein kümmerliches Häufchen, das vor allem aus den Stadtmühlenbewohnern und einigen Saufkumpanen bestand, hatte sich gerade um das offene Grab versammelt und der Herr Pfarrer hatte die Predigt begonnen, die recht unzusammenhängend und wirr war, denn wie sollte man eines arbeitsscheuen Trunkenbolds gedenken, der in regelmäßigen Abständen seine Familie verprügelt hatte, als ungewohnter Lärm die Trauergemeinde aufschreckte! Schließlich verstummte sogar der Pfarrer, das summende Geräusch wurde stärker und dann konnte man
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