Beerensommer
Lange sind sie nicht gefahren, genau wie Richard angekündigt hat.
»Es liegt gar nicht weit weg von der Siedlung, wo Gretl und Johannes wohnen bzw. gewohnt haben. Wir müssen praktisch nur um den Buckel herumfahren, der sich in das Tal hineinschiebt.«
Langsam rollt der Wagen auf einen großen, mit Kies bestreuten Vorplatz, auf dem allerdings kräftig das Unkraut wuchert.
Anna steigt aus und unwillkürlich entfährt ihr ein »Ach, du lieber Gott!«. Das ist kein Haus, das ist irgendwie ein monströses Ungetüm!, denkt sie. Über die große Treppe aus Granit an der Vorderseite des Hauses könnte ohne Weiteres Baronesse Gundula schreiten, um den feschen Förster zu begrüßen. Für jede Seifenoper würde diese Villa eine prachtvolle Kulisse abgeben. Mit Nebel und Käuzchenruf dagegen wäre es ein idealer Drehort für einen Horrorfilm, überlegt Anna.
Die oberen Etagen hat der Architekt im Stil eines Schwarzwaldhauses gestaltet, mit tief heruntergezogenem Dach und Fachwerk, der untere Teil ist eine wilde Mischung aus Burg und Kathedrale mit seinen hohen, spitzen Bogenfenstern. Und überall gibt es Erker, Balkone, Türmchen.
»Du hast mir nicht zu viel versprochen«, sagt sie lachend zu Richard. »Das ist ja ein grauenvoller Schuppen. Was hat sich der Architekt bloß dabei gedacht?«
»Die Frage ist wohl eher, was sich Friedrich Weckerlin dabei gedacht hat! Dieser bedauernswerte Kollege von mir, übrigens ein renommierter Architekt aus Stuttgart, hat genau nach seinen Anweisungen gebaut. Wahrscheinlich hat er sich hinterher im Neckar ersäuft – ich hätte es zumindest getan. Eines ist jedenfalls offensichtlich.« Er grinst Anna an. »Siehst du auch nur ein Fitzelchen von Grunbach?«
Anna schaut sich um. Tatsächlich, dieser Ausläufer des Berges verdeckt vollkommen den Blick auf den Ort. Einige Häuser des Nachbardorfes kann man von hier aus sehen, aber von Grunbach nicht einmal einen Schornstein.
»Das Haus liegt an der äußersten Gemarkung von Grunbach, praktisch an der Grenze zum Nachbarort. Das hat er ganz gezielt so gemacht. Der alte Dederer hatte etliche Grundstücke, aber genau dieses musste es sein!«
Er führt sie durch die Räume, die ohne Möbel kalt und riesig wirken.
Stuck, überall stuckverzierte hohe Decken und Anna kommt es so vor, als ginge sie durch ein Museum, aus dem man alle Ausstellungstücke entfernt hat. Die Schritte auf dem immer noch glänzenden Parkettboden hallen und alles wirkt mächtig und leer und kalt. Im großen Salon – auf diesem Namen habe Friedrich bestanden, erzählt ihr Richard – befindet sich ein reich verzierter Kamin, dessen Sims von zwei mächtigen Eberköpfen getragen wird. Anna schaudert. Hier hat er vor allem die großen Jagdgesellschaften gegeben, Richard deutet mit einem sarkastischen Lächeln auf den Albtraumkamin: »Muss gut ausgesehen haben, bei knisterndem Feuer und den erlesenen Gästen drum herum.«
»Wer hat eigentlich alles in diesem Riesenhaus gelebt?«, fragt Anna.
»Nur Friedrich, Lisbeth und der Sohn, Louis-Friedrich. Und natürlich Gretl und Lene, und in den Glanzzeiten die Bediensteten: Chauffeur, Köchin, zwei Dienstmädchen und ein Gärtner. Später ist nur noch Gretl übrig geblieben. Muss dir nachher noch die Küche zeigen, das war eine besondere Attraktion, denn es gab einen Speiseaufzug und sogar einen Kühlschrank, wahrscheinlich den ersten hier am Ort.«
Nach Friedrichs Tod habe niemand von der Familie hier wohnen wollen, erzählt er Anna, und die Unterhaltskosten seien zudem gigantisch. Man habe es zwar einige Male vermieten können, aber für eine einzige Familie sei der Kasten einfach zu groß. Einige Hotelketten hätten schon ihr Interesse bekundet, doch dafür sei es dann wiederum zu klein und man müsste einiges umbauen. Alle seien wieder abgesprungen.
»Und so haben wir den Kasten am Hals und wissen nicht, was wir damit anfangen sollen. Ich habe Fritz schon gesagt, dass ich ihm das Haus zur Hochzeit schenke, aber er meinte, das sei das beste Argument, um Junggeselle zu bleiben.«
Anna muss grinsen. Das sieht ihm ähnlich!, denkt sie.
Schließlich gehen sie auf der Eichentreppe mit dem prachtvoll verzierten Handlauf nach oben. Überall geschnitzte Eber- und Hirschköpfe und Geweihe. Was Friedrich nur an diesem ganzen Jägerzeugs gefunden hat?, fragt sich Anna. Er schien sehr eigene Vorstellungen gehabt zu haben, wie ein Schwarzwälder Sägewerksdirektor wohnen sollte. Sie stellt sich vor, wie er im Smoking, Lisbeth in Taft
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