Beerensommer
Friedrich Spaß gemacht, den baumlangen Kerl, der ein Jahr älter war als er, herumzukommandieren. Mutter wäre entsetzt, dachte er in diesem Moment. Mutter wäre entsetzt, wenn sie wüsste, wie sehr ich solche Leute verachte! Und sie wäre entsetzt, wenn sie von dem Gespräch mit dem alten Dederer wüsste und was ich gemacht habe! Und Johannes? Der würde das gar nicht verstehen.
Ach, Johannes! Es war wirklich ein gutes Omen, dass Johannes heimkam, gerade am heutigen Tag. Die Dinge liefen so, wie er es sich vorgestellt hatte. Dass der Alte ihm geglaubt hatte, daran bestand kein Zweifel, er hatte ja schon von einem neuen Vorarbeiter gesprochen und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er das wurde.
Zeit ... was hatte der Alte gesagt? »Noch ist Zeit ...«
Von wegen! Spöttisch kräuselten sich Friedrichs Lippen, vor sich sah er die Schnapsflasche und die zitternde Hand, die danach griff. Seine Zeit lief ab und der Alte wusste das und er wusste auch das von Lisbeth; in diesen Augen, diesen starren stumpfen Augen hatte etwas gelegen, was Friedrich im Nachhinein plötzlich erkannte: Es hatte Furcht darin gelegen – der alte Louis Dederer fürchtete ihn!
Unwillkürlich richtete er sich auf. Sein Blick umfasste noch einmal das Sägewerk, glitt hinüber zum weißen Schindelhaus mit der großen Terrasse, streifte den Stapelplatz mit dem exakt aufgeschichteten Holz und dann sah er hinauf auf die bewaldeten Hänge des Eibergs. »Zeit«, flüsterte Friedrich, »alles nur noch eine Frage der Zeit.« Und dann ging er hinüber, um Franz Übele zum Dederer zu schicken.
25
Der Zug fuhr langsam in den Bahnhof ein, zischend entwich der Dampf, den die Lok in dicken weißen Wolken ausspuckte. Unter dem scharfen, durchdringenden Gekreisch der Räder kam der Zug schließlich zum Stehen und Johannes stieg vorsichtig die Stufen zum Bahnsteig hinunter. Am liebsten wäre er gehüpft, mit einem mächtigen Satz heruntergesprungen auf den Grunbacher Boden, aber das ging nicht. Die Schulter und der Arm, den er in einer Schlinge trug, schmerzten noch und eine jähe Erschütterung hätte höllisch wehgetan.
»Geduld«, hatten die Ärzte im Lazarett gesagt, »Geduld, Herr Helmbrecht«, und etwas von »wichtigen Nervensträngen« und »entzündlichen Prozessen und Komplikationen« gemurmelt. Schonen solle er sich. Aber er wollte nicht klagen! Im Vergleich zu Paule und vielen anderen ging es ihm gut. Was, wenn er nur mit einem Bein gekommen wäre oder gar den rechten Arm verloren hätte, ganz zu schweigen vom Augenlicht! Und noch schlimmer, wenn er gar zu denen gehört hätte, denen die Seele kaputtgegangen war, irgendetwas in ihnen war entzweigegangen, aber man konnte es nicht sehen und nicht reparieren – nicht zusammenflicken wie seine zerschossene Schulter.
Oh, er hatte sie gesehen, die, die verstummt waren, den ganzen Tag auf dem Stuhl saßen, unerreichbar, abgetaucht in eine andere Welt! Oder die »Krampfer«, wie man sie nannte, die sich plötzlich in fürchterlichen Zuckungen und Krämpfen auf dem Boden wälzten, dass drei starke Männer nicht genügten, sie festzuhalten. »Das sind die ärmsten Schweine«, hatte Paule oft gesagt, »die allerärmsten! Vater Staat und unser herrlicher Kaiser nehmen die gar nicht zur Kenntnis. Beim Kampf ums Vaterland hat man gefälligst nicht verrückt zu werden und deshalb gibt’s auch nichts, keine Invalidenrente, keine Unterstützung. Eine Schande ist das, Jungchen, eine solche Schande!«
Aber er, Johannes Helmbrecht, stand wieder auf heimatlichem Boden und er konnte wieder die vertraute Silhouette der Berge sehen, den Bahnhof mit den schlanken, grün gestrichenen, eisernen Säulen, konnte riechen, hören – was kümmerte einen da eine schmerzende Schulter! Einige Grunbacher hatte er im Zug getroffen, sie hatten sich gefreut, ihn zu sehen, wie man sich über jeden freute, der wieder einigermaßen unversehrt nach Hause zurückgekehrt war. Da zählte auch nicht mehr, ob einer aus der Stadtmühle kam.
Suchend blickte sich Johannes um und in diesem Moment erblickte er eine vertraute Gestalt an der Ecke des Bahnhofsgebäudes. Friedrich war da, um ihn abzuholen! Johannes’ Herz schien für einen Moment auszusetzen, dann aber rannte er, so gut es seine Schulter zuließ, auf den Freund zu, den Tornister einfach hinter sich werfend.
»Mensch, Johannes, dass du wieder da bist und sogar fast heil, wie’s scheint«, flüsterte Friedrich dicht an Johannes’ Ohr und für einen Moment lagen sie
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