Beerensommer
sowieso, wenn er auch ein Tunichtgut war. Und dann die Sache mit den Bomben, erinnerst du dich, was ich dir gesagt habe? Ein Glück, dass das Wetter heute so schlecht war, hätten die Piloten besser getroffen, nicht auszudenken!« Johannes verstummte, er wollte nicht aussprechen, was an Schreckensvisionen in den letzten Stunden an ihm vorübergezogen war. Er war sich sicher, dass Friedrich genau die gleichen Bilder vor Augen hatte. Ein brennendes, zerstörtes Sägewerk, die meisten Arbeiter tot, Feuer, das auf andere Häuser in Grunbach übergriff!
Schweigend kamen sie oben auf der Ebene an und betraten den Pfad, der zum Katzenbuckel führte.
»Lass uns nicht mehr davon reden«, bat Friedrich. »Der Krieg ist bald zu Ende und du bist einigermaßen heil durchgekommen, das ist das Wichtigste.«
Ein leichter Wind kam auf und trieb den Freunden die in den Zweigen hängenden Regentropfen ins Gesicht. Aber sie bemerkten es gar nicht. Auf der anderen Seite des Tales hing die Sonne schon tief in den Wipfeln der Tannen. Johannes wischte sich mit dem Ärmel über sein nasses Gesicht. Wahrscheinlich waren auch ein paar Tränen darunter. Er war wieder zu Hause! Seine Linke umschloss fest das schmale Büchlein in der Tasche. Seit seinem Aufenthalt im Lazarett hatte er nicht mehr darin gelesen. Es wäre ihm geradezu obszön vorgekommen, angesichts des Elends um ihn herum. Aber jetzt würde er es wieder zur Hand nehmen und den alten Zauber wiederfinden. Dann konnte er bestimmt auch wieder malen. Etwas Neues fing jetzt an! Gleich morgen musste er an Paule schreiben. Leise murmelte er die ersten Sätze des »Taugenichts« vor sich hin und musste dabei lächeln. Er kannte das halbe Buch schon auswendig: »Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht lustig ...«, und dann sprach er den Satz, den er sich im Büchlein angestrichen hatte, sprach ihn langsam, als sei er eine magische Formel, eine Beschwörung, die nun für den Rest seines Lebens gelten sollte: »Mir war es wie ein ewiger Sonntag im Gemüte.«
26
Anna sitzt hinten in Richards Mercedes, Fritz lenkt den Wagen und Richard flucht leise wegen des Regens, der aber Gott sei Dank seit heute Morgen abgenommen hat und nur noch als feiner Nieselregen herunterkommt.
Noble Karre, denkt sie und streckt sich behaglich auf dem Ledersitz aus. Wirklich nobel – als Architekt muss man doch schwer Kohle machen. Wahrscheinlich ist auch noch Vermögen da von Christines Seite, Vermögen, das aus der Dederer-Weckerlin-Ecke kommt. So genau hat sie das aber noch nicht herausgekriegt, bis auf den teuren Wagen machen die Caspars auch nicht den Eindruck, als lägen die Millionen nur so herum.
Wie soll es eigentlich bei mir selber weitergehen?, fragt sie sich auf einmal. Soll ich die Wohnung in Berlin verkaufen? Krieg ich eine Art Rente von Mama? Eine Lebensversicherung ist auch noch da, weiß sie, das hat ihre Mutter ihr gesagt, so schlecht sieht es also nicht aus. Auch sei eigentlich alles geregelt und beim Notar hinterlegt. Irgendwie fällt ihr gerade jetzt in diesem Moment ein, dass die Wohnung restlos abbezahlt ist, auch das hat ihr Mama noch erzählt. Die ist jetzt einiges wert – und ist auch schon damals, als Mama sie gekauft hat, zwei Jahre nach der Wiedervereinigung, nicht ganz billig gewesen. Hat Mama mit ihrem Lehrerinnengehalt so gut verdient?, fragt sie sich. Von Johannes kam bestimmt kein Geld, der hatte doch selber nichts ... Ich muss unbedingt den Notar fragen, vielleicht weiß der etwas.
Aber jetzt will sie nicht daran denken, Berlin und das ganze Drumherum sind ganz weit weg!
Zum »alten Kasten« geht es. Richard hat gefragt, was sie zuerst anschauen will, das Friedrich-Haus, das Johannes-Haus oder den Friedhof? Und sie hat sich für das Friedrich-Haus entschieden. Richard hat dazu genickt. »Verstehe, eine Art dramatische Steigerung. Und immer hübsch langsam, nicht zu viel auf einmal.«
Eine ganz andere Frage kommt ihr auf einmal in den Sinn: Wie lange bleibe ich denn eigentlich hier? Keiner fragt mich danach, alle scheinen vorauszusetzen, dass ich alle Zeit der Welt mitgebracht hab. Und das stimmt auch, sie hat jetzt wirklich viel Zeit. Vor allem aber will sie im Augenblick nicht daran denken, wie es weitergehen soll; da ist Anna ehrlich mit sich selbst.
Sie will noch in der Vergangenheit bleiben, sie hat doch auch noch so viele Fragen!
»Da sind wir«, sagt Fritz und steigt aus, um ein großes schmiedeeisernes Gittertor zu öffnen.
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