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Beerensommer

Beerensommer

Titel: Beerensommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Barth-Grözinger
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einen Strudel aus Dreck und Feuer eingetaucht und dann war die Welt über ihm zusammengefallen.
    Während des Erzählens merkte Johannes, dass nichts von dem, was er sagte, auch nur annähernd wiedergab, was er erlebt und empfunden hatte. Es gibt keine Worte und es gibt keine Bilder dafür, dachte er in diesem Moment verzweifelt. Aber es ist da, in mir drin – wie eingeschlossen und versiegelt steckt es in mir, wie eine Geschwulst, die wachsen wird. Wenn ich es nur aufschneiden könnte, alles herauslassen, dann ginge es mir besser. Und gleichzeitig merkte er auch, dass etwas zwischen ihm und Friedrich war, was neu war, was er nie vorher empfunden hatte: Es war ein Gefühl der Fremdheit, ein ganz unbestimmtes Gefühl, nur vage empfunden und dennoch war es da und schuf eine schmerzliche Distanz!
    Wir haben immer in verschiedenen Welten gelebt, dachte er wehmütig, und die letzten Wochen und Monate waren wir weiter voneinander entfernt als je zuvor. Er hörte nur mit halbem Ohr hin, als ihm Friedrich vom Sägewerk Dederer erzählte. Aber er sagte nichts, sondern lauschte höflich Friedrichs Erzählungen über seinen privaten Krieg.
    Später saßen sie alle zusammen in der Küche der Stadtmühle, in der sich kaum etwas verändert hatte. Derselbe wacklige Tisch, dieselben wurmstichigen Stühle, derselbe Spülstein und die Wasserbank mit der abblätternden Farbe. Es hatte wirklich Spätzle gegeben, wenn auch das Mehl gestreckt war, und die Lene hatte sogar eine richtige, echte Leberwurst beigesteuert. Vom Metzger Gottlieb sei sie, ordentliche Ware, nicht so ein Zeugs, wo alles Mögliche drin war, sondern es war richtige Schweineleber, wenn auch mit zu vielen Schwarten versetzt. Die anderen fragten nicht nach, wie Lene zu dieser Kostbarkeit gekommen war. Und Most hatten sie getrunken, sauren, vergorenen Most aus Mühlbeck-Beständen, der den Kopf benebelte und müde machte. Aber er half beim Vergessen und tauchte alles in ein wärmeres Licht, das schäbige Zimmer und die Welt draußen. Die Ahne hatte sich selbstvergessen an Johannes’ Schulter gelehnt, ganz verhutzelt war sie und ihm kam es so vor, als bestünde sie nur noch aus den Lumpen und dem Umschlagtuch, in das sie ihren zerbrechlichen Körper gewickelt hatte. Die Mädchen hingen an ihm, hockten abwechselnd auf seinem Schoß und er musste immer wieder die Geschichten erzählen, die sie von ihm kannten.
    »Aber nichts vom Krieg«, sagte er, als Lene ihn leise darum bat. »Um Himmels willen nichts vom Krieg, heute Abend nicht. Versteh das, Lene.«
    Später sangen sie, ein bisschen betrunken und glücklich und sehr leise, damit es die Mühlbecks nicht hören konnten.
     
    Am nächsten Morgen drang ungewohnter Lärm durch die Stadtmühle. Jemand pochte laut an die Tür. Benommen richtete sich Johannes auf. Sein Kopf war schwer vom Most. Hastig schlüpfte er in seine Hose und huschte leise hinunter. Friedrich war schon an der Tür und öffnete sie, davor stand ein älterer Mann, der in diesem Moment gerade seine Mütze abnahm. Bevor Friedrich fragen konnte, was der Lärm zu bedeuten hatte, deutete der Mann mit einer Kopfbewegung nach hinten, wo noch zwei andere Männer standen. Auch sie nahmen in diesem Moment ihre Mützen ab und traten dann auseinander, sodass der Blick auf einen zweirädrigen Karren fiel, auf dem ein Bündel Lumpen lag. Aber nein, das waren keine Lumpen, diese nassen, mit Schlamm und Dreck bedeckten Stofffetzen hatten die Umrisse einer menschlichen Gestalt und man konnte jetzt einen Kopf erkennen, einen gelblichen Kopf mit einem klaffenden, zahnlosen Mund.
    »Wir haben ihn heute Morgen am Wehr gefunden und herausgezogen«, erklärte der Mann, der bei ihnen stand, ohne Umschweife und fügte dann hinzu: »Ist letzte Nacht wohl besoffen in die Enz gefallen«, und dann, nach einem kurzen Moment des Innehaltens: »Wundern tut’s einen nicht. Hat irgendwie so kommen müssen.«
    Johannes sah Friedrich von der Seite an. Sein Gesicht schien starr, wie aus Stein gemeißelt. Dann kam eine Frage, blitzschnell: »An welchem Wehr habt ihr ihn gefunden?«
    »Am unteren, bei uns.« Der Mann deutete auf seine Kameraden, die immer noch reglos bei dem Karren standen. Johannes erkannte sie jetzt, es waren Arbeiter aus dem Zinser-Sägewerk, die wohl gerade mit der Arbeit begonnen hatten.
    Das macht es noch schlimmer, dachte Johannes und beobachtete besorgt den Freund. Genau wie bei seinem Vater! Und auch noch dasselbe Wehr! Was mochte jetzt in Friedrich vorgehen?

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